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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Autoren: Dennis Gastmann
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Bewerbungsstress und Hartz IV, eine andere findet sich zu burschikos, ein Dritter weint, weil er sich von der eigenen Mutter ungeliebt fühlt. Und was erzähle ich? Das bleibt im Tipi. Danach gibt mir Floyd ein Bio-Bier aus.

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    Kapitel 3
    Der alte Heinrich und das Meer
    (Osnabrück)
    W elche Wunder der Welt kann ein Mensch mit bloßem Auge vom All aus erkennen: die Chinesische Mauer, das Tadsch Mahal, die Pyramiden von Giseh? Alles Legende. Von da oben sieht man nicht einmal ihren Schatten, das ist verbrieft. Tatsächlich aber wird sich schon Neil Armstrong über ein gewaltiges Schiff gewundert haben, das den Westen Niedersachsens überragt. Auch ich kann es jetzt am Horizont erkennen und jage wie ein Kind darauf zu.
    Mein Elternhaus. Manche nennen es den «Dampfer Europa», und noch heute liegen die Bauzeichnungen in einem Osnabrücker Museum. Mein Urgroßvater Heinrich ließ unser auffälliges Domizil in den goldenen Zwanzigern bauen. Er war eigentlich Landwirt, hatte aber mit seinem Cousin einen Fahrradgroßhandel in der Innenstadt gegründet und eine flotte Mark gemacht. Nun wünschte sich der Patriarch einen repräsentativen Palast. Natürlich musste es etwas Schillerndes sein – einen Heinrich Gastmann steckte man nicht in ein Reihenhaus von der Stange. Nein, mein Urgroßvater hatte eine Vision: Er wollte wie ein Kapitän auf einem schneeweißen Ozeangiganten leben, in einem Kreuzfahrtschiff auf dem Trockenen. Vielleicht lag es daran, dass er wasserscheu war. Angeblich traute er sich nur bis zu den Knien ins Meer.
    Der Architekt, ein berühmter Mann, gab sich alle Mühe. Er setzte drei rechteckige Stockwerke übereinander und verzierte sie mit Treppen, die an Gangways erinnern. Die östliche Seite des Hauses ließ er steil abfallen wie ein Heck, aus der westlichen formte er einen halbrunden Bug mit Sonnendeck auf der obersten Etage. Und unter das spitze Dach aus roten Ziegeln setzte er Heinrichs Kommandobrücke: einen niedrigen Raum mit zwei engen Luken. Auch sonst hätten die Decken ruhig etwas höher und die Fenster größer und zahlreicher sein können, aber ein Boot sei nun mal ein Boot, meinte Heinrich und beendete die Diskussion mit den schönen Worten: «Unter mir kann jeder nach meiner Façon glücklich werden.»
    Legenden ranken sich um dieses eigenartige Gebäude, das mich immer ein wenig an die Arche Noah erinnert. Es heißt, die Fliegerbomben des Zweiten Weltkriegs seien an seinen Mauern abgeprallt wie Papierkugeln. Allerdings erlitt das Haus innere Verletzungen: Die Wand zwischen Kochstube und Esszimmer im Parterre fiel einfach um, und so entstand die erste offene Wohnküche der Welt. Auch unsere Nachbarin blieb leider nicht unversehrt: «Die guckte aus dem Fenster, und rums, da rollte ihr Kopf in den Garten», plauderte meine Oma mal beim Kaffeekränzchen. «Anneliese!», riefen wir geschockt, aber die verzog keine Miene: «Kinder, so war das im Krieg.»
    Auch über Heinrich gibt es tausend Geschichten zu erzählen, die meisten sind schaurig-schön. Man könnte erschreckende Parallelen zwischen ihm und König Heinrich IV. ziehen. Anneliese hat mir zwar ausdrücklich verboten, meinen Urgroßvater in diesem Buch einen Tyrannen zu nennen, aber ein Despot, meinte sie, ja, ein Despot sei er schon gewesen. Bis heute fürchten wir, dass seine Gene in unserer Familie weitergegeben werden. Wenn bei uns jemand so richtig explodiert, gerne an Heiligabend, dann heißt es immer: Siehst du, jetzt klingst du genau wie der alte Heinrich! Er soll skrupellos, berechnend und grausam gewesen sein, und trotzdem hat mich dieser Mann immer irgendwie fasziniert.
    Als der Kapitän starb und sein Traumschiff allmählich graue Schlieren bekam, übernahm meine Mutter das Ruder. Sie verlieh dem alten Kahn etwas, das ihm fehlte: Liebe. Aus Luken machte sie Panoramafenster, aus der Kommandobrücke ein buntes Kinderzimmer, und zuletzt gab sie dem Dampfer Europa eine frische Farbe: Knallorange. Nun weht eine Piratenflagge über dem Dach. Das ist ihr Humor.

    «Der alte Heinrich hätte wirklich auf allen vieren nach Canossa kriechen sollen. Aber was willst du da unten?», fragt meine Mutter, als wir im Kerzenschein auf Urgroßvaters einstigem Sonnendeck ein Wiedersehensbier trinken. Heute ist die Terrasse ein überdachter Wintergarten mit asiatischen Möbeln, Orchideen und Buddhafiguren. Um ihn zu erreichen, muss man durch unsere Ahnengalerie schreiten, einen Flur mit weinroten Wänden und skurrilen
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