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Galgeninsel

Galgeninsel

Titel: Galgeninsel
Autoren: Jakob Maria Soedher
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gelungenen Proportionen wegen. Das Wissen um die Wirkung von Proportion und Position schien heutzutage verloren gegangen zu sein. Das wurde ihm besonders dann bewusst, wenn er den dunklen Metallkasten, kurz vor der Ampel, rechts der Straße betrachtete. Das abweisende Gebäude konnte einer düsteren Zukunftsvision entsprungen sein und hier dokumentierten die Gesetzmäßigkeiten moderner Architektur auch ein neues Menschenbild – mit dem Schielin nicht viel anfangen konnte. Er war eben in vielerlei Hinsicht hoffnungslos altmodisch.
    Schielin passierte den Friedhof, kurz darauf das Gymnasium, um einige hundert Meter später nach links auf den Parkplatz der Kripo Lindau einzubiegen.
    Er hoffte auf einen ruhigen Wochenausklang, denn Marja hatte ihm ein neues Buch geschenkt. Eines, dem er sich in ganzer Ruhe widmen wollte. Eine neue Übersetzung der Gedichte von Pierre de Ronsard. Da konnte er kein Ungemach gebrauchen.
    *
    Zur gleichen Zeit und gar nicht weit entfernt ging Raimund Kandras den Schotterweg entlang. Sein Auto hatte er, kurz nachdem er von der Hauptstraße abgebogen war, stehen lassen, weil es ihm nicht passend und seiner Absicht abträglich erschienen war, mit dem großen Wagen bis zum Anwesen vorzufahren. Der Wagen würde keinen guten Eindruck auf die beiden Alten machen. Er hatte sogar sein Outfit verändert und kam sich nun fremd vor, in den weiten Cordhosen und den braunen Lederschuhen, denen jegliches Design fehlte. Und dann dieses mattgrün gestreifte Hemd. Alles andere als die Kleidung, in der er sich wohlfühlte. Aber genau wie der Wagen, so war auch der schwarze Anzug für das was er vorhatte wenig geeignet.
    Er musste Nähe vermitteln, brauchte Wohlwollen, was mit einem schwarzen Geländewagen mit chromblinkenden Leisten und seinem Managerdress nicht zu erreichen war. Er mochte Schwarz, denn das erzeugte seiner Meinung nach Distanz.
    Als er die letzte Kurve hinter sich gelassen hatte, blieb er vor dem Bauernhaus stehen. Ein überraschtes »Uhh«, entfuhr ihm. Selbst er war für einen Augenblick von der Atmosphäre dieses Ortes gefangen. Die Rosen blühten und vor seinen Augen leuchtete das Rot in allen Tonstufen. Dazwischen cremefarbene und gelbe Sprenkel. Rote. Rote mussten es sein. Er hatte ein paar Mal rote Rosen verschenkt und sich gewundert, weshalb sich Frauen darüber freuten.
     
    Ein kurzer, sanfter Windstoß trieb eine Wolke süßen Dufts zu ihm und fast wäre er wieder umgekehrt. Einen kurzen Augenblick lang hatte er es vor. Orte von solcher Ausstrahlung mied er. Ihm war es nicht gegeben diese Art friedvoller Ruhe zu genießen. Stille und Ruhe machten ihm Angst, erinnerten ihn an den Tod. Doch er musste diese Chance nutzen. Das Leben war kein Wunschkonzert – diesen Satz hatte er einmal gehört oder gelesen, und ihn sich gemerkt. Er gefiel ihm. Und allein deshalb, weil das Leben für ihn noch nie ein Wunschkonzert war, aus diesem Grund blieb er, und ging nicht wieder fort. Was hätte er auch sonst tun sollen.
     
    Ein paar Meter vom Haus entfernt grenzte ein von Rosen wild umwucherter Jägerzaun das Grundstück zum geschotterten Zufahrtsweg ab. Kandras öffnete das windschiefe Gatter und ging zielstrebig weiter. Blüten interessierten ihn nur, wenn es sich dabei um Geld handelte. Den Alten sah er ein Stück vom Haus entfernt in der morgendlichen Wärme, wie er gebeugt in einem der Gemüsebeete stand und mit der Hacke langsam aber mit stoischer Regelmäßigkeit die Erde lockerte. Kandras sah kurz zum Haus. Die Längsseite, vor der er stand, wies nach Süden und der Ausblick war atemraubend. Vom Gehöft aus fiel das Gelände in nur angedeuteten Terrassen sanft abwärts. Kandras aber sah nicht diesen paradiesischen Garten mit den Gemüsebeeten, Buchsformationen, Stauden- und Rosenbeeten. Er sah eine Fläche, die er in Quadratmeter und Wohneinheiten unterteilte. Es musste mindestens ein Hektar sein, vermutlich waren es zwei. Weit im Süden begrenzte eine Busch- und Heckenreihe das Grundstück. Dahinter ein gleißender Schein, der die Obstgärten, die dieses Paradies rahmten, unsichtbar machte. Die Mittagssonne spiegelte sich im Wasser des Sees und aus dem goldenen Fleck erwuchs die gewaltige Bergkulisse, endlos weit entfernt und doch so nah.
    Kandras war blind für das Naturschauspiel von Sonne, See, Säntis und Altmann. Er rechnete, wurde fast irr an den Zahlenkolonnen, die sein Hirn durchzuckten. Er grinste dabei und versuchte zu verstehen aus welchem Grund noch keiner seiner
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