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Galgeninsel

Galgeninsel

Titel: Galgeninsel
Autoren: Jakob Maria Soedher
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so ruhig wie es die milden Aufgeregtheiten einer Ferienstadt zur Vorsaison zuließen. Schielin saß an diesem Montagmorgen alleine im Büro, dachte an das vergangene Wochenende, an Marja, die Kinder und Ronsard. Der Platz ihm gegenüber war verwaist. Lydia, mit der er Zimmer und Arbeit teilte, hatte ein paar Tage frei genommen. Er hielt kurz inne, sah auf das gerahmte Foto, von welchem ihm seine Frau und die Kinder entgegen lächelten, dann wanderte sein Blick ein paar Zentimeter weiter nach rechts, wo ein weiterer Bilderrahmen stand, aus welchem ihm ausdruckslos Ronsard entgegenblickte, die Ohren nach vorne gereckt. Schielin lächelte und schob gedankenverloren und unkonzentriert einige Akten von einem Stapel auf den anderen. Von draußen drang Lärm von der Baustelle der Realschule durchs Fenster. Langsam nur, und somit entgegen der Absicht desjenigen, der das Wort auf dem Aktendeckel rot unterstrichen hatte, erlangten die handgeschriebenen Druckbuchstaben seine Aufmerksamkeit: Vermißtensache!
    Schielin schlug den dünnen, mehrfach geknickten Aktenhefter auf und stieß zunächst auf eine Fotografie. Schwarzweiß. Professionelle Portraitarbeit, war sicher teuer gewesen. Ein Mann blickte aus dem Bild. Schielin schätzte ihn auf Mitte vierzig, und dieses Gesicht da auf dem Foto kam ihm irgendwie bekannt vor, so auf den ersten Blick. Er sah auf die dichten schwarzen Haare und die widerspenstigen Locken, die mit Gel in Schach gehalten und straff nach hinten gekämmt waren. Darunter ein kantiges Gesicht, kühl lächelnd, mit scharfer Nase, hervorstehender, kantiger Stirn und breitem Mund, zu dem die schmalen Lippen nicht so recht passen wollten. Überhaupt dieses Lächeln, dachte Schielin. Es diente eher dazu, dem Betrachter Respekt zu vermitteln als Freundlichkeit zu signalisieren. Obwohl es sich um eine Schwarz-Weiß-Photographie handelte, war zu erkennen, dass dem Unbekannten eine makellose Gesichtsbräune wichtig war. Schielin lehnte sich zurück, linste über die Brille und hielt das Bild ein Stück weiter weg. So sah er besser. Das weiße Hemd, die perfekt gebundene Krawatte und das schwarze Jackett unterstrichen den bisherigen Eindruck, den er gewonnen hatte. Ein Gewinnertyp. Aber woher kannte er ihn nur?
     
    Er holte die Formulare aus dem Ordner und suchte den Familiennamen – Kandras. Als die Buchstaben zu einem Namen wurden, nickte Schielin ohne es bewusst zu wollen, und wiederholte nun den Namen, leise vor sich hingesprochen, »Aaahh, Kandras«.
    Er überflog das Blatt in seiner Hand und las in der Spalte bei Beruf Immobilienmakler. Natürlich. Immobilien-Kandras. Wieder ließ er die Buchstaben langsam vorüberziehen, bis sie verschwammen und bildhafte Erinnerungen auftauchten. Lange zurückliegende Erinnerungen an seine Schulzeit.
    Schielin wollte nie in Kontakt mit diesem Kerl geraten. Ein ganz unangenehmer Typ war das gewesen, wie er sich wieder erinnerte. Einer, der keiner Auseinandersetzung aus dem Weg ging. In seiner Nähe gab es immer Streit und nicht selten Prügeleien. Schielin fiel jetzt auch die alte Geschichte wieder ein, die damals viele Gemüter aufgebracht hatte. Vierzehn oder fünfzehn musste er gewesen sein, als Kandras sich mit einem Lehrer geprügelt hatte. Und spätestens seit diesem Vorfall umgab ihn eine Mischung aus Furcht und Respekt.
    Schielin fiel auf, dass er diese Ereignisse überhaupt nicht mehr mit den aufgeblähten Anzeigen von Immobilien-Kandras in Verbindung gebracht hatte. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um den Schlägertypen von damals handeln konnte. Manche Lebenswege waren schon seltsam. Der grobe Kerl von damals war Inhaber einer der feinen Makleradressen hier am See geworden, und diese Fassade machte die Vergangenheit vergessen. Er hatte immer versucht sich von ihm fernzuhalten und nun lag der Kerl vor ihm auf dem Schreibtisch. Zwei Formblätter und ein Foto reichten dafür aus. Schielin war das unangenehm, denn er hatte ungern mit Leuten zu tun, die er kannte. Auch wenn es so lange her war wie in diesem Fall.
    Er überflog routiniert die Unterlagen und stutzte gleich mehrmals. Auch das Fahrzeug von Kandras, ein Porsche Cayenne, war verschwunden. Ein so auffälliges Auto wurde eigentlich schnell entdeckt, wenn es mal in der Fahndung war. Aber da war noch etwas. Besonders eigentümlich war der Name, der unter der Vermisstenmeldung stand. »Dr. Kehrenbroich«. Schnell blätterte Schielin zurück und sah nochmals unter den Personalien von
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