Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Funkensommer

Funkensommer

Titel: Funkensommer
Autoren: Michaela Holzinger
Vom Netzwerk:
wissen!«
    Karolinas Blick wird glasig. Sämtliche Farbe weicht aus ihrem Gesicht.
    »Was soll ich wissen?«, fragt Jellena, die sich bis eben auf der Couch gefläzt und heißen Kakao geschlürft hat. Doch jetzt sieht sie zu uns hoch. An ihrer linken Augenbraue erkenne ich, dass sie nicht locker lassen wird.
    Auch Karolina scheint das zu bemerken. Sie lässt sich auf einen der Küchenstühle fallen und sinkt in sich zusammen. Nach einer Weile holt sie tief Luft. Und dann öffnen sich ihre Lippen.
    »Draga, ich dir etwas sagen muss«, fängt Karolina leise an.
    Ich lasse mich neben Jelly auf die Couch fallen und halte ihr meine Hand hin. Jelly greift sofort danach. Als ob sie ahnen würde, was nun auf sie zukommt. Ich lausche der Stimme von Karolina, wie sie nach den richtigen Worten sucht. Und versucht zu erklären. Und ich erkenne an Jellys Gesicht, dass es keine richtigen Worte dafür geben wird. Dass man so etwas niemals erklären kann.
    Als Karolinas Stimme verebbt, bleibt es lange still in der kleinen Küche. Bis Jelly den Kopf hebt und ihre Mutter ansieht: »Aber warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt?«
    Karolina weint leise vor sich hin. »Damals es war alles so schrecklich, Draga! Wir neu hier waren. Wir niemanden kennen. Dann dein Papa nimmt sich Leben. Das eine große Sünde ist bei vielen Leuten! Wir es hätten nicht nur hier schwer gehabt. In alter Heimat Bosnien auch! Also habe ich ihn auf orthodoxen Friedhof in Stadt begraben lassen. Und niemanden etwas gesagt. Familie in Bosnien war ohnehin alle tot. Sie ihn nicht vermissen. Und hier fast niemand ihn gekannt.«
    Jelly schüttelt den Kopf. »Aber ich hab ihn gekannt, Mama. Er war mein Papa! Du hättest es mir sagen müssen, dass er tot ist …«
    Jellys Worte, kaum ausgesprochen, hängen kalt zwischen dem Geruch der Essensreste, die noch vom Frühstück auf der Anrichte stehen. Eine einzelne Fliege surrt herum.
    Karolina schluchzt laut auf. »Weil … weil … ich es selber nicht wahrhaben wollte.« Der jahrelang mit herumgetragene Schmerz bricht mit einem Mal in Karolina auf. Sie hält sich die Hände vors Gesicht und versucht, ihn herauszuweinen … loszuwerden …
     
    Karolina muss das allein mit sich austragen.
    Aber Jelly? Meine Jelly-Bean? Kann ich nicht irgendetwas machen, damit es ihr besser geht?
    Ich laufe ihr nach, als sie aus der Küche stürmt. Und ich sitze neben ihr, als uns der Bus in die Stadt bringt. Ich halte ihre Hand, doch das scheint nicht viel zu helfen. Sie wirkt so blass. So schrecklich ruhig. Ihre ganze Leichtigkeit, für die ich sie mein Leben lang bewundert habe, ist mit einem Mal verpufft. Das Alleine-klar-kommen-Gen … verschwunden. So fremd.
    Ich schließe die Augen. Was würde ich an ihrer Stelle wollen? Wer würde mir die Traurigkeit am ehesten nehmen können? – Plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe. Raphael! Das ist es! Ich werde Raphael anrufen.
    Und Finn gleich auch.
     
    Später sitze ich neben meiner Freundin. Schon lange.
    Die Kerze, die wir für ihren Vater am Grab auf dem städtischen Friedhof angezündet haben, flackert im Augustwind. Dahinter, auf dem Stein, stehen seine Initialen. Geburts- und Sterbetag. Mehr nicht. Dafür leuchten frische Blumen in der Messingvase. Rote Nelken. Im trüben Abendlicht. Wahrscheinlich von Karolina.
    »Es tut mir so leid«, sage ich zu Jelly. Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Spruch in den letzten Stunden von mir gegeben habe. Zum Trost. Und auch weil mir nichts Besseres eingefallen ist.
    Jelly lässt die Schultern hängen. »Ich werde das meiner Mutter niemals verzeihen«, murmelt sie. »Wie konnte sie mir all die Jahre verschweigen, dass er längst tot ist, während ich die ganze Zeit über auf ihn gewartet habe …«
    »Sie wollte dich nur schützen«, versuche ich zu erklären. »Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Wenn jeder im Dorf gewusst hätte, dass er sich umgebracht hat, dann hättet ihr für immer damit leben müssen. Also hat sie ihn hier begraben lassen. Und allen erzählt, er sei nach Bosnien zurück …«
    Jelly starrt auf die flackernde Kerze.
    »Dein Papa war schwer depressiv. Nach dem Krieg ist es vielen so ergangen, und hier in Tieglitz hat er sich nie zu Hause gefühlt …«
    Leise fängt sie zu weinen an. »Weißt du, ich kann mich noch daran erinnern.« Sie schwenkt den Kopf zu mir rüber. »Wie er so war, wenn es ihm nicht gut ging. Manchmal hatte ich sogar Angst vor ihm. Und dann … eines Tages … war er verschwunden. Mama und ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher