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Fromme Wünsche

Fromme Wünsche

Titel: Fromme Wünsche
Autoren: Sara Paretzky
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er
lebt noch... Als meine Mutter starb, hat mein Vater ihm geschrieben. Wir
bekamen von ihm einen völlig verwirrten Brief. Wir sollten kommen, um sie singen
zu hören. Ich habe das alles immer verdrängt.“
    „Dann war deine Mutter Sängerin?“
    „Sie war mitten in der Ausbildung. Sie wollte zur
Oper. Nach der Emigration hatte sie kein Geld zum Weiterstudieren.
    Statt dessen gab sie selbst Unterricht - unter
anderem mir. Sie träumte davon, daß ich an ihrer Stelle Karriere machen würde.
Aber meine Stimme ist nicht groß genug. Außerdem mache ich mir aus Opern nicht
viel. Baseball ist mir lieber.“
    Beinahe entschuldigend bekannte Ferrant, daß er ein
Opernfan sei und häufig Vorstellungen im Covent Garden besuche.
    Als ich meinen zweiten Espresso ausgetrunken hatte,
erkundigte er sich beiläufig, ob ich vielleicht die Aktienkurse verfolgte.
    Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab' ja sowieso kein
Geld übrig. Warum fragst du?“
    Er zuckte die Achseln. „Ich bin zwar erst eine Woche
hier, aber beim Durchblättern des Wall Street Journal fiel mir auf, daß Ajax im
Verhältnis zu den anderen Versicherungen sehr hoch gehandelt wird. Und der Kurs
steigt noch.“
    „Phantastisch. Sieht so aus, als habe deine Firma
auf das richtige Pferd gesetzt.“
    Er ließ sich die Rechnung bringen. „Unsere Gewinne
halten sich im Rahmen. Wir kaufen zur Zeit auch keine Firmen auf oder stoßen
irgendwelche Objekte ab. Wodurch können Aktienkurse sonst noch steigen?“
    „Manchmal entwickeln institutionelle Anleger eine
seltsame Vorliebe für ein bestimmtes Papier. Den Versicherungen ging es während
der letzten Depression oder Rezession oder was auch immer viel besser als den
meisten anderen Wirtschaftszweigen. Ajax gehört zu den Branchenriesen.
Vielleicht gehen die Fonds und die übrigen Großanleger auf Nummer Sicher. Ich
kenne eine Finanzmaklerin. Frag sie doch mal, ob sie Näheres weiß.“
    Wir holten die Mäntel und wagten uns wieder hinaus.
Der Wind hatte aufgefrischt, aber mit einem guten Essen und einer halben
Flasche Wein im Magen kam er uns nicht mehr so schneidend vor. Ferrant lud mich
zu einem Brandy in sein Apartment ein.
    Im gedämpften Licht der Lampe neben der Bar konnte
man die Flaschen noch erkennen, aber die häßlichen Möbel traten zum Glück in
den Hintergrund. Ich stand am Fenster und blickte auf den See. Die
Straßenlampen auf dem Lake Shore Drive wurden vom Eis reflektiert. Wenn ich die
Augen zusammenkniff, konnte ich im Süden den Pier des Marinehafens erkennen
und in etwa zwanzig Kilometer Entfernung den roten Lichtschein, der von den
South Works ausging. In dieser Gegend hatte ich früher gewohnt, in einem
schäbigen Reihenhaus aus Holz, das meine Mutter mit Geschick wohnlich eingerichtet
hatte.
    Ferrant legte den Arm um mich und reichte mir den
Cognacschwenker. Ich ließ mich zurücksinken. Dann drehte ich mich zu ihm, und
wir umarmten uns.
     
    5
Frust
     
    Den Rest der Nacht verbrachten wir in einem
Doppelbett mit einem Kopfteil aus skandinavischem Kiefernholz. Als wir am
nächsten Morgen lange nach acht aufwachten, lächelten wir uns schlaftrunken und
zärtlich an. Ferrant sah jung und verletzlich aus mit den tiefblauen Augen und
dem dunklen Haarschopf, der ihm in die Stirn fiel. Ich nahm ihn in den Arm und
küßte ihn. Er gab meinen Kuß zurück.
    Dann setzte er sich auf. „Amerika ist das Land der
Gegensätze. Einerseits kriegst du so ein herrlich großes Bett, für das ich zu
Hause gern ein Monatsgehalt hinlegen würde, andererseits sollst du mitten in
der Nacht rausspringen, weil du zur Arbeit mußt. In London würde es mir nicht
im Traum einfallen, vor halb zehn in der Firma zu sein. Aber hier ist die
ganze Belegschaft schon seit einer halben Stunde im Einsatz. Ich mach' mich
lieber auf die Socken.“
    Als Ferrant, leise auf die Arbeitsmoral der
Amerikaner fluchend, gegangen war, rief ich den telefonischen Auftragsdienst an.
Albert hatte dreimal angerufen, einmal gestern am späten Abend, zweimal heute
früh; er hatte seine Büronummer hinterlassen. Das Wonnegefühl schwand. Ich zog
mich an und musterte mich kritisch in den großen Spiegeltüren des Kleiderschranks.
Für das Gespräch mit Hatfield mußte ich etwas anderes anziehen. Albert konnte
ich dann von meiner Wohnung aus anrufen.
    Vierzehn Stunden Parkzeit im Hancock-Gebäude
kosteten mich einen Haufen Geld. Meine Laune wurde dadurch nicht besser. Als
ich verkehrswidrig von der Oak Street in die Unterführung zum Lake Shore
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