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Frevelopfer

Frevelopfer

Titel: Frevelopfer
Autoren: Arnaldur Indriðason
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die ihres Vaters herausgestellt hatte, war die leidvolle Erfahrung noch keineswegs verarbeitet.
    »Ich weiß von einer Frau, mit der du vielleicht sprechen solltest, es würde dir guttun«, sagte Elínborg. »Sie heißt Unnur.«
    »Wer ist das?«
    »Sie versteht, was du durchgemacht hast. Ich bin sicher, dass sie dich auch gern kennenlernen würde.«
    Sie reichten sich die Hand.
    »Sag mir Bescheid, dann rede ich mit ihr.«
    Elínborg verließ das Hauptdezernat und setzte sich in ihr Auto. Anstatt nach Hause zu fahren, machte sie sich noch einmal auf den Weg ins Þingholt-Viertel. Den Schlüssel zu Runólfurs Wohnung hatte sie noch. Wahrscheinlich würden hier schon bald neue Mieter einziehen. Auf dem Weg dorthin dachte sie an Erlendur und an ein Telefongespräch an diesem Morgen, das ihr einige Sorgen bereitete.
    »Spreche ich mit Elínborg?«, hatte eine müde männliche Stimme gefragt.
    »Ja.«
    »Mir wurde gesagt, ich solle mich an dich wenden. Es ist wegen eines Mietautos, das hier bei uns vor dem Friedhof steht.«
    »Wo ist das?«
    »Hier bei uns in Eskifjörður. Der Wagen steht da vor dem Friedhof, und niemand ist drin.«
    »Und? Was habe ich damit zu tun?«, fragte Elínborg.
    »Ich habe die Nummer überprüft, und es hat sich herausgestellt, dass es sich um einen Leihwagen handelt.«
    »Ja, das hast du gesagt. Bist du bei der Polizei in Eskifjörður?«
    »Ja, entschuldige, habe ich das nicht gesagt? Er wurde an einen Mann vermietet, mit dem du wohl zusammenarbeitest.«
    »An wen?«
    »Er heißt Erlendur Sveinsson.«
    »Erlendur?«
    »Die bei der Autovermietung haben gesagt, dass er bei euch arbeitet.«
    »Das stimmt.«
    »Weißt du etwas darüber, was er hier im Osten vorgehabt hat?«
    »Nein«, sagte Elínborg. »Er ist vor zwei Wochen in Urlaub gefahren und wollte in die Ostfjorde. Mehr weiß ich nicht.«
    »Na, schön. Der Wagen steht schon einige Zeit dort, und zwar genau vor dem Zufahrtstor, wir müssen ihn da wegschaffen. Den Mann konnten wir nirgends erreichen. Es ist ja so gesehen auch nichts passiert, trotzdem wollte ich mal nachhaken.«
    »Leider kann ich dir nicht weiterhelfen.«
    »Na schön. Das war’s dann auch, vielen Dank.«
    »Auf Wiederhören.«
    Elínborg hatte Runólfurs Wohnung betreten und machte in der Küche, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer Licht. In der Wohnung war nichts angerührt worden. Nun konnte sie sich vorstellen, was sich dort abgespielt hatte. Valdimar, der sich für seine Schwester rächen wollte, hatte Runólfur überrascht. Kurze Zeit später war Konráð am Tatort eingetroffen und hatte seine Tochter in Panik vorgefunden. Vielleicht war Runólfur ja das Schicksal zuteilgeworden, das er verdient hatte. Allerdings glaubte sie auch nicht an einen höheren Richter in solchen Dingen.
    Elínborg hatte keine klare Vorstellung, wonach sie suchte, vielleicht war die Chance nicht groß, dass sie etwas fand, aber versuchen wollte sie es auf alle Fälle. Die Spurensicherung hatte die gesamte Wohnung durchkämmt, aber das war eine andere Suche unter anderen Voraussetzungen gewesen.
    Sie begann in der Küche, öffnete sämtliche Schränke und Schubladen und stöberte zwischen Töpfen, Schüsseln und Küchengeräten herum. Sie suchte im Eisschrank und im Gefrierfach, in einer Packung mit uraltem Vanilleeis, sie suchte in der kleinen Garderobe beim Eingang, im Sicherungskasten, und sie klopfte auf das Parkett auf der Suche nach einem Hohlraum. Dann machte sie im Wohnzimmer weiter, drehte einen Sessel um, blickte unter Sitzpolster, nahm Bücher aus dem Regal. Sie nahm die Superheldenfiguren in die Hand und schüttelte sie.
    Im Schlafzimmer hob sie die Matratzen hoch, untersuchte die Nachttische zu beiden Seiten des Bettes sorgfältig, öffnete den Kleiderschrank und holte die Sachen heraus, tastete sie ab und legte sie aufs Bett. Sie räumte die Schuhe aus dem Schrank, stieg hinein, klopfte gegen die Wände und auf die Böden. Sie dachte an Runólfur und an das Böse, das wie ein dunkler, unheilvoller Fluss sein Wesen durchströmt hatte.
    Sie arbeitete langsam und sorgfältig, bis sie sicher sein konnte, nichts außer Acht gelassen zu haben. Es war schon spät am Abend, als sie endlich fertig war.
    Das, was sie suchte, hatte sie nicht gefunden.
    Nichts, was einen Hinweis auf das Schicksal des Mädchens aus Akranes gegeben hätte.

Fünfunddreißig
    Elínborg legte sich zu Teddi ins Bett und versuchte einzuschlafen. Sie sehnte sich nach Ruhe, spürte aber nur Angst und
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