Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frevelopfer

Frevelopfer

Titel: Frevelopfer
Autoren: Arnaldur Indriðason
Vom Netzwerk:
vollständig begreifen.«
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Ich verstehe es ja selbst kaum, obwohl ich hier lebe. Und selbst wenn ich versuchen würde, es dir zu beschreiben, wäre es doch bloß ein Bruchteil der Wahrheit. Und in den Augen von Haddi an der Tankstelle ist dieses winzige bisschen Wahrheit auch eine Lüge. Selbst wenn du dich mit allen am Ort unterhalten und dir zwanzig Jahre Zeit dafür nehmen würdest, bekämst du doch nur einen Bruchteil davon mit, wie es ist, an einem solchen Ort zu leben. Wie die Leute denken. Wie die Leute zueinander stehen. Was für jahrelange oder lebenslange Verbindungen zwischen den Menschen bestehen und was sie trennt. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und verstehe vieles immer noch nicht, obwohl ich hier zu Hause bin. Freunde können sich im Nu in Scheusale verwandeln. Und Geheimnisse hütet man bis in den Tod.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob …«
    »Du verstehst nicht, worauf ich hinauswill, nicht wahr?«
    »Ich glaube, einiges von dem zu wissen, was geschehen ist.«
    »Alle wissen, dass du hier in der Werkstatt bist«, sagte Valdimar. »Sie wissen, warum du ins Dorf zurückgekommen bist. Sie wissen, dass du gekommen bist, um mit mir zu reden. Alle wissen, was ich getan habe, aber sie sagen nichts. Keiner sagt etwas. Ist doch eigentlich ganz nett von ihnen, oder?«
    Elínborg antwortete auf diese Frage nicht.
    »Addý war meine Halbschwester«, erklärte Valdimar. »Sie war vier Jahre älter als ich, und wir haben uns immer gut verstanden. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Ich weiß nicht, wer er ist, und ich habe auch kein Interesse daran, es zu erfahren. Meine Schwester hatte einen norwegischen Vater, er war Seemann, der gerade lange genug am Ort geblieben war, um unsere Mutter zu schwängern. Mama war hier im Dorf nicht gut angesehen. So etwas weiß immer der ganze Ort, noch bevor man selbst davon erfährt. So nach und nach findet man heraus, weshalb man gehänselt wird. Sie hat uns gut erzogen, und wir hatten über nichts zu klagen, obwohl manchmal jemand vom Sozialamt zu uns nach Hause kam, ein komischer Gast, der anders war als alle anderen. Er hatte eine Aktentasche dabei. Er nahm uns ganz genau in Augenschein und stellte völlig absurde Fragen. Aber nie hatte er etwas an uns auszusetzen, denn Mama hat vorbildlich für uns Kinder gesorgt, auch wenn sie mit gewissen Problemen zu kämpfen hatte. Sie war eine tüchtige Arbeiterin. Wir waren zwar arm, aber uns fehlte nie etwas. Wegen ihrer beiden Bastarde hatte sie einen Schimpfnamen, den ich dir aber nicht sagen werde. Dreimal bin ich deswegen in ernsthafte Schlägereien geraten und habe mir dabei einmal sogar den Arm gebrochen. Und dann ist sie im Frieden Gottes gestorben. Sie liegt auch auf dem Friedhof, an der Seite ihrer Tochter.«
    »Um deine Schwester herrschte aber nicht so viel Gottesfrieden«, warf Elínborg ein.
    »Mit wem hast du gesprochen?«
    »Das spielt doch keine Rolle.«
    »Es gibt auch gute Leute hier im Ort, du darfst mich nicht missverstehen.«
    »Das habe ich gemerkt.«
    »Addý hat mir erst etwas gesagt, als es schon viel zu spät war«, sagte Valdimar, und seine Züge strafften sich. Er griff nach einem großen Schraubenschlüssel, der auf dem Rad des Traktors lag, und wiegte ihn in seiner Hand. »Sie hat sich völlig abgekapselt. Sie war allein, als er über sie hergefallen ist. Weil wir damals Geld brauchten, hatte ich auf einem Gefriertrawler angeheuert, und es war ein langer Törn. Als es passierte, waren wir gerade erst in See gestochen.«
    Valdimar schwieg mit gesenktem Kopf und schlug sich leicht mit dem Schraubenschlüssel auf die Handfläche.
    »Sie hat mir nichts gesagt. Sie hat niemandem etwas gesagt. Als ich zurückkam, war sie ein völlig anderer Mensch. Sie hatte sich auf eine unbegreifliche Art und Weise verändert. Ich durfte kaum noch in ihre Nähe kommen. Ich wusste nicht, was los war, ich war damals ja erst sechzehn. Sie traute sich kaum aus dem Haus. Schottete sich ab. Weigerte sich, ihre beiden Freundinnen hier aus dem Ort zu treffen. Ich wollte, dass sie zum Arzt ginge, aber das lehnte sie ab. Sie bat mich nur, sie in Ruhe zu lassen, sie würde sich schon wieder fangen. In gewissem Sinne hat sie das auch getan. Aber sie hat mir nicht gesagt, was dahintersteckte. Ein, zwei Jahre vergingen, aber sie wurde nie wieder so, wie sie vorher gewesen war. Sie hatte immer Angst. Manchmal war sie voller Wut auf etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Manchmal saß sie nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher