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Freude am Durchblick

Freude am Durchblick

Titel: Freude am Durchblick
Autoren: Ursula Buechler , Klaus Juergen Becker
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Füße. Versuchte ich meinen Blick nach vorne zu richten, kam er sofort wieder zurück. Am liebsten wäre ich in ein Mauseloch gekrochen. Alles um mich herum hatte seine Fröhlichkeit, seine Leichtigkeit verloren.
    Ich war erschrocken, geradezu entsetzt! Das also ist die Welt meiner Mutter?! Auf einmal konnte ich ihr Verhalten besser verstehen. Meine Mutter und ich hatten bisher immer Probleme miteinander gehabt. Sie war für mich schwer einzuordnen und ich wahrscheinlich ebenso für sie. Ich hatte mir ein Leben lang ihre Liebe und ihre Anerkennung gewünscht, aber nie bekommen. Mit diesem tristen Weltbild, was sich mir gerade offenbarte, konnte ich verstehen, dass nicht viel Freude in ihr war.
    Dann wurde mir bewusst: Meine Emotionen und meine Gefühle waren andere, als wenn ich mit zwei Augen schaute. Noch vor fünf Minuten hatte ich fröhlich mit beiden Augen in den Park geblickt und plötzlich, nur mit dem linken Auge sehend, war die Welt wie verwandelt, nichts war wie zuvor. Vorbei waren die Fröhlichkeit, die Leichtigkeit und die Neugierde. Ich saß da ziemlich deprimiert und eingeschränkt in meiner geistigen und emotionalen Flexibilität.
    Ich stellte mir vor, ich nähme meine Mutter an der Hand und wir gingen im Geiste ein paar Schritte in den Park. Wir trafen auf ein paar Johannisbeersträucher,
die am Vortag abgeerntet worden waren. Ein paar Beeren hatten sie zurückgelassen. Ich ging mit meiner virtuellen Mutter zu diesen Sträuchern. Ich stand davor und sah keine Beeren an dem Strauch. Es erschien mir alles unklar, durcheinander, leer. Ich sah nur Gestrüpp vor mir. Ich wusste aber, es gab noch Beeren, nur konnte ich sie jetzt nicht mehr sehen. Es lag wohl nicht an meinen Augen oder an meiner Sehleistung. Auf einmal hörte ich in mir eine Stimme, die sagte: »Das ist wieder mal typisch, wenn ich komme, ist nichts mehr da.« Die Stimme meiner Mutter in mir sprach zu mir.
    Ich ging zu meinem Platz zurück und setzte mich auf meinen Stuhl. Ich brauchte Zeit, mich neu zu sortieren. Etwas Unfassbares war geschehen. War ich meine Mutter? War meine Mutter in mir? Mein Geist konnte das Ganze als Ursula Büchler einordnen und analysieren, aber die Gefühle, Bilder und Emotionen, die hochkamen, waren die meiner Mutter.
    Ich blieb noch eine Weile sitzen, fühlte und dachte nach. Das war nicht meine Art, so zu denken, zu fühlen oder zu sprechen, aber doch war es in mir! Ich saß auf meinem Stuhl, fühlte wie meine Mutter. Es stieg langsam ein zartes Verstehen und Mitgefühl in mir auf. Mir war damals aber noch nicht bewusst, welchen noch brachliegenden Schatz an Ressourcen mir meine Mutter für mein Leben mitgegeben hatte.
    Ich nahm die Augenklappe, setzte sie auf mein linkes Auge und schloss die Augen. Ich stimmte mich jetzt darauf ein, die Welt mit meinem Vaterauge zu erfahren.
    Ich öffnete vorsichtig mein rechtes Auge. Sofort ging mein Blick weit in den Park hinaus. Alle Farben kehrten zurück. Es leuchtete, strahlte und funkelte. Alle Blumen erhielten ihre Strahlkraft zurück. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zum Ende des Parks gelaufen. Alles war fröhlich und heiter.
    Ich schaute mich rechts und links um. Derselbe Park, dieselbe Zeit, dieselben Personen. Der einzige Unterschied war: Ich sah nun alles mit meinem Vaterauge. Meine Stimmung war freudig erregt, ja geradezu heiter. Meine Gefühlswelt war eine völlig andere als vorher mit dem Mutterauge.
    Ich stand auf und ging mit meinem virtuellen Vater zu demselben Johannisbeerstrauch. Und siehe da: Ich konnte etliche Beeren entdecken, die ich pflücken und essen konnte. Ich hörte die Stimme meines Vaters in mir, die zu mir sagte: »Schau mal, Mädchen, wie schön! Sie haben für uns noch ein paar Beeren drangelassen!«
    Wieder kehrte ich zu meinem Platz zurück und versuchte das gerade Erlebte
einzuordnen: Wenn ich mit dem rechten Auge schaute, erlebte ich die Welt so, wie ich meinen Vater kannte: voller Lebensfreude, voller Heiterkeit, annehmend und offen. Mit dem linken Auge hatte ich die Welt meiner Mutter erfahren, traurig, ohne Lebensfreude und trist.
    Die Wesensarten meiner Eltern lebten in meinem Körper. Die emotionalen Programme meiner Eltern wurden anscheinend über das jeweils in meine Augen einfallende Licht bzw. über mein Gehirn in meinem ganzen Körper aktiviert und lebten in mir weiter. Und ich als eigenständiges Wesen konnte die Gefühle meiner Eltern hervorrufen, erleben und sie mit meinem Bewusstsein analytisch betrachten und
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