Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht
Autoren: Nancy Kress
Vom Netzwerk:
Männer und Frauen schlugen sich die Fäuste
blutig, derweil die Mauer immer noch kreischte. Jehanna verlagerte
Ayrid, um das dunkle Kästchen auszurichten. Talot war neben ihr
aufgetaucht, sie war Jehannas Aufforderung nicht gefolgt; sie hielt
ein Messer in der Hand, das sie wer weiß wem abgenommen hatte,
und deckte Jehanna, die sich mit Ayrid plagte und keine Hand frei
hatte. Doch Jehanna wollte Talot nicht aufs Spiel setzen, nicht noch
einmal, nicht so bald, nachdem sie so um sie gebangt hatte.
    Jehanna warf einen Blick über die freie Schulter; das Loch in
Talots Zelle schloß sich gerade hinter einem stämmigen
jelitischen Bürger, der schwankend auf die Füße kam.
Glanzlichter tanzten um seinen Kopf – Glanzlichter auch zwischen
seinen Händen – und er trug einen Gedharnisch. Dann
mußte auch Dahar einen getragen haben, sonst wäre es ihm
in der stickigen Luft nicht anders ergangen als Ayrid. Tun so, als
wären sie Geds, einer wie der andere – Jehanna zog eine
Grimasse des Ekels und kippte Ayrid Talot in die Arme. »Bring
die Schleimschnecke hier raus!« schrie sie. Wenn Talot Ayrid
raustragen mußte, würde sie wenigstens hier verschwinden.
Jehanna zielte mit dem Kästchen, und wieder warf die Mauer
Runzeln und riß ein Maul auf. Ein paar Leute verloren den Halt
und fielen in das gähnende Loch, und andere kletterten wie die
Verrückten über sie hinweg ins Freie…
    Sie selbst war die Verrückte.
    Keine anständigen Kämpfe mehr. Kein Anstand in dieser
Scheißstadt. Kein Anstand in diesem Kommandanten; kein Anstand
in diesem Soldaten, der Ayrid einfach fallengelassen hatte; kein
Anstand in diesen Bürgern, die Belasir getötet hatten.
Warum also tat sie, was sie tat?
    Was blieb ihr anderes übrig?
    Ayrid hatte ihr Talot zurückgegeben. Ayrid hatte das alles
wegen Dahar auf sich genommen. Bei all dem bornierten
Krischeiß, der sich in den letzten Stunden in dieser bornierten
Scheißstadt ereignet hatte, waren das – jetzt und hier
– zwei Tatsachen, die einen Sinn machten.
    Erzfeindin, Hure, delysische Schleimschnecke…
    Schwester.
    Krischeiße!
    Jehanna jagte im Zickzackkurs durch das hysterische Inferno, denn
alle anderen liefen in die entgegengesetzte Richtung…

 
80
     
    »… sis bringt uns um«, beendete der Alte den Satz.
Er spähte aus seinen eingesunkenen, wässernden Augen auf
die Gedsonde. Das verblaßte Emblem aus Stern und Mondsichel auf
seiner Schulter warf Falten, als er seine kraftlose Faust hob.
»Hast du verstanden, Sonde? Was bist du? Ich habe nicht den
leisesten Schimmer, wie du funktionierst, ich, der ich… Allah
allein weiß, wie viele Jahrhunderte wir schon in dieser Falle
stecken, abgeschnitten, lebendig begraben…«
    Er holte Atem und hielt ihn an, um einem Hustenreiz zu entgehen.
Dann redete er leiser: »Begraben in der Stasis. Das mußt du melden.«
    Die Sonde beendete ihre Inspektion; sie schwebte zur Tür.
Eine schmale, ausgezehrte Frau blockierte den Weg.
»Ali…« Die Frau wich zurück und nahm die Faust an
den Mund.
    »Das mußt du melden«, wiederholte der Alte.
»Stasis tötet.«

 
81
     
    Das Bibliothekshirn wiederholte seine Lösung des Zentralen
Widerspruchs in veränderter Diktion, fahndete nach
Ausdrucksformen, die es nicht gab: »In einer Spezies ohne
Einhelligkeit ermöglicht streunende Loyalität die
›zeitweilige Einhelligkeit‹ der intelligentesten Hirne. Die
›zeitweilige Einhelligkeit‹ treibt den technologischen
Fortschritt voran.«
    Es folgte ein langes Schweigen.
    Dann sagte das von Geds geschaffene, von Geds programmierte und
mit ihrer Poesie begabte Bibliothekshirn samtweich und leise:
»Gewalt begünstigt die Intelligenz.
    Das vergiftet die Pheromone des Universums.
    Aber so ist es.«

 
     
SIEBTER TEIL
     
Die Insel der Toten
     
     
    Er läßt die Nacht in den Tag sickern
    und läßt den Tag in die Nacht sickern.
    - DER KORAN

 
82
     
    Spätlicht.
    Ayrid schlug die Augen auf und holte stockend Luft. Sie lag
außerhalb von R’Frow, mit dem Rücken auf felsigem
Boden. Über ihr wölbte sich ein Himmel von tiefem Purpur
mit silbernen Sprenkeln. Purpur – kein Grau, ein intensives,
sattes Purpur, das sich schier endlos erstreckte. Zwei Monde ergossen
ihr weißes Licht über die Savanne, und hoch oben
glänzte das Leuchtfeuer – unsäglich hoch,
unsäglich kalt. Der Wind brachte den lebendigen Duft von
seichtem Wasser.
    Ayrid wimmerte.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte eine Stimme
hinter ihr, und sie drückte vor lauter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher