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Fremde Wasser

Fremde Wasser

Titel: Fremde Wasser
Autoren: Wolfgang Schorlau
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erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen
     Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt.
    Ihm ist, als greife eine knöcherne Hand nach seinem Hirn und knete es. Was ist mit solchen Sätzen gemeint? Seine Finger wandern
     die Zeile entlang, als könne er so besser begreifen. Sein Blick schweift zu den Jungs vom Hölderlin. Denen scheint dieser
     Satz keine Schwierigkeiten zu machen. Sofort erwacht sein antrainierter Sinn für Konkurrenz. Er lässt sich nicht abhängen.
     Plötzlich ist er hellwach. Noch einmal: Der Tauschwert gibt also ein Verhältnis an, ein Austauschverhältnis zwischen verschiedenen
     Waren.
    Seitzle erklärt. Geduldig. Gründlich. Wie von innen erleuchtet. Dieser alte Mann hat eine Mission. Er, Crommschröder, wird
     bald sein bester Schüler sein. Vielleicht nicht in der ersten Stunde, aber abgerechnet wird zum Schluss. Also: Dem Tauschwert
     muss etwas Drittes innewohnen, etwas, das allen Waren gleich ist und sie dadurch erst vergleichbar und austauschbar macht.
    Was das sein könnte, fragt Seitzle, ob sich einer was vorstellen könnte.
    Crommschröder hat keine Ahnung.
    Arbeit, sagt Jürgen cool. Crommschröder hasst ihn. Heike sieht ihn bewundernd an. Aber dass ihr nächster Blick ihm gilt, entgeht
     ihm nicht.
    Auf dem Heimweg ärgert sich Stefan. Er hat sich die Kapitalschulung anders vorgestellt. Leichter. Irgendwie politischer. Nun
     gut. Er wird sich vorbereiten.
    Immer ein bisschen besser sein als die anderen.
    Am nächsten Mittwoch begreift er mehr. Der Tauschwert oder der Wert der Produkte wird bestimmt durch die in ihnen steckende
     Arbeit.
    Nun beschäftigen sie sich mit der Arbeit, der »wertbildenden Substanz«, wie Seitzle es nennt. Je weiter die Schulung vorankommt,
     desto mehr verfällt der Schriftsetzer in den Marx'schen Jargon. Und die Schüler tun es ihm gleich.
    Sie wühlen sich in die Urgründe der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Produktionsweise. Sie fühlen sich wie Entdeckungsreisende.
     Wie Wissenschaftler, die der großen Weltformel auf der Spur sind.
    Sie berauschen sich an den großartigen Formulierungen. Heute liest Crommschröder vor, und immer wieder sieht er auf, will,
     dass die Worte Seitzle und Heike so beeindrucken, als wären sie seine eigenen.
    Es steht daher dem Wert nicht auf die Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in
     eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis
     ihres eigenen gesellschaftlichen Produkts zu kommen.
    Crommschröder beobachtet Heike, die mit einem Lineal und schwarzem Kugelschreiber sorgsam den letzten Satz unterstreicht.
     Ihr Freund lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Als Heike den Kugelschreiber beiseite legt, sieht sie plötzlich auf und erwischt
     Crommschröder dabei, wie er sie anstarrt. Streift sich mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Und lächelt. Nur kurz,
     aber immerhin. Jürgen bemerkt es und legt eine Hand auf ihre Schulter. Meins, sagt diese Geste.
    In diesem Augenblick verliebt sich Stefan Crommschröder in Heike.
    * * *
    Mittwoch für Mittwoch arbeiten sie sich durch das Kapitel des Austauschprozesses, und Heike, so erscheint es Stefan,sieht immer öfter zu ihm hin, nachdenklich meist, sinnierend, nur noch einmal lächelt sie. Ihm entgeht nichts, keine ihrer
     Bewegungen, auch nicht, als sie Jürgens Hand von ihrem Oberschenkel wegschiebt. Und auch alles, was in dem blauen Buch steht,
     saugt er auf.
    Seitzle jagt sie durch die Geldtheorie. Die Zirkulation der Waren: Ware wird zu Geld, das Geld wieder zu neuen Waren. Ware-Geld-Ware.
     Entsprechend die Zirkulation des Geldes: Geld-Ware-Geld. G-W-G. Durch die Arbeit wird in diesem Prozess der Ware weiterer
     Wert zugefügt. Aus Geld wird Geld'. Der kleine Strich steht für diesen Zuwachs an Wert, den Karl Marx den Mehrwert nennt.
     Der wirkliche Kreislauf des Geldes sei daher Geld-Ware-Geld' oder abkürzt Geld-Geld', abgekürzt: G-G'.
    Alles sei auf diesen Zweck ausgerichtet, aus Geld mehr Geld zu machen: das Erziehungssystem, Gesundheitswesen, die Produktion.
     Die Verzinsung des Kapitals sei das allgemeine Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft. Nichts anderes treibt sie an. G-G'.
    Oder wie Seitzle ihnen erklärt: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.
    An diesem Abend reden sie sich die Köpfe
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