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Fremde Wasser

Fremde Wasser

Titel: Fremde Wasser
Autoren: Wolfgang Schorlau
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und in diesen Jahren hat dieses Wort noch einen geheimnisvollen Klang, so als gehöre er einer besonderen
     Welt an, die den Bürgerkindern der Halbhöhe aufgrund des Makels ihrer Herkunft verwehrt ist. Genauer gesagt, Seitzle war Schriftsetzer
     bei einer der beiden großen Stuttgarter Tageszeitungen und verlor seinen Job nach der Niederlage im großen Streik von 1976. Er ist ein Mannundefinierbaren Alters, vielleicht sechzig. Schütteres blondes Jahr, eine Brille mit stabilem Metallgestell, dahinter überraschend
     dunkelbraune Augen, wach und freundlich.
    Seitzle examiniert ihn bei der ersten Begegnung nur kurz: Was er von Marx gelesen hat? Das Manifest, aha. Lohnarbeit und Kapital?
     Oder Lohn, Preis und Profit? Nein? Hegel? Auch nicht. Mmh.
    Er betrachtet den jungen Crommschröder nachdenklich und entscheidet, die neue Mittwochsgruppe sei richtig für ihn. Er soll
     in dem Buchladen am Wilhelmsplatz den Band 23 der Marx-Engels-Ausgabe kaufen und sich am Mittwoch um 19 Uhr hier einfinden.
     Dann gibt er ihm die Hand, eine erstaunlich weiche Hand, wie Crommschröder findet, der sich eine Arbeiterfaust anders, schwieliger
     vorgestellt hat, und verabschiedet ihn. Bis Mittwoch. Es werden noch einige andere Schüler dabei sein.
    Den Kauf des Buches empfindet Stefan wie einen verschwörerischen Akt. Er stellt sich nur kurz vor, wie unvorstellbar es für
     seinen Vater wäre, den DKP-Buchladen zu betreten. Doch er geht hinein, nachdem er dreimal an der Eingangstür vorbei- und wieder
     zurückgelaufen und sich sicher ist, dass ihn niemand beobachtet. Der Verkäufer mustert ihn, nickt unmerklich, als Stefan seinen
     Wunsch mit leiser Stimme vorgetragen hat, geht zu einem Bücherregal, entnimmt, ohne den Blick von Stefan zu wenden, ein dickes,
     blau gebundenes Buch, hält den Band kurz hoch, dann packt er ihn am Ladentisch in eine Tüte und kassiert.
    Sofort, noch auf der Straße, nimmt Stefan das Buch aus der Tüte. Fester Einband. Blauer Karton. Auf der Vorderseite steht
     in goldenen Lettern: Marx Engels Werke, dann die Nummer des Bandes: 23.
    Noch nie hat ihn der Besitz eines Buchs so stolz gemacht. Schnellen Schrittes geht er ins nahe gelegene Café Nast und setzt sich an einen Tisch, schlägt das Buch auf: Karl Marx, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band,Der Produktionsprozess des Kapitals. Er liest den ersten Absatz des ersten Kapitels, aber er ist viel zu aufgeregt, um auch
     nur einen Satz zu verstehen. Er klappt das Buch wieder zu.
    Am Mittwoch steht er eine halbe Stunde zu früh vor dem unscheinbaren Haus in Kaltental. Er will sich keine Blöße geben und
     streicht 25 Minuten durch die benachbarten Straßen. Fünf Minuten vor sieben klingelt er. Eugen Seitzle öffnet, führt ihn in
     die Küche. Zwei Jungs aus dem Hölderlin-Gymnasium sitzen schon da, kurz danach schrillt die Türklingel, und ein Schüler, den
     Crommschröder aus dem Karlsgymnasium kennt, kommt herein. Er bringt ein Mädchen mit, offensichtlich seine Freundin.
    »Hallo, ich bin die Heike«, sagt sie und setzt sich unbekümmert. Dann nennen auch die anderen ihre Namen. Sie warten stumm.
     Das blaue Buch vor sich.
    Eugen Seitzle nimmt am Kopfende Platz. Auch er legt ein blaues Buch vor sich. Doch seines hat er in eine durchsichtige selbstklebende
     Folie eingebunden. Aus dem Buch ragen zahllose Zettel, auf denen Seitzle in winziger, aber gestochen scharfer Druckschrift
     seine Anmerkungen notiert hat.
    Der Schriftsetzer erklärt das Vorgehen: Abwechselnd wird vorgelesen. Nach jedem Kapitel Diskussion. Wer eine Frage hat, soll
     sie sofort stellen.
    »Wer liest zuerst?«
    Der Junge aus dem Karlsgymnasium hebt die Hand.
    »Gut, Jürgen, fang du an.«
    Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine »ungeheuere Warenansammlung«,
     die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.
    Er sieht zu Heike. Sie hat Jürgen, dem Jungen aus dem Karlsgymnasium, eine Hand auf den Oberschenkel gelegt.
    Er wendet den Blick ab, versucht, sich auf die Lektüre zu konzentrieren.
    Jede Ware hat einen Doppelcharakter. Aha.
    Einmal ist das der Gebrauchswert. Das sei die Nützlichkeit der Ware, die, so heißt es weiter, durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt.
    Und dann gibt es den Tauschwert.
    Crommschröder fällt es nicht leicht, den eigentümlich schweren Sätzen zu folgen.
    Der Tauschwert
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