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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn
Autoren: Unbekannter Autor
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Horace Walpole. Der war zu seiner Schande - offenbar zu seiner ewigen Schande - darauf hereingefallen. Verzweiflung und Tod im Alter von siebzehn. Jury schüttelte den Kopf. Ein Leben ohne sichtbaren Erfolg, ohne Geld, ohne ausreichend zu essen und dann von seinem Wohltäter verraten. Chatterton hatte sich nicht einmal literarischen Diebstahl zuschulden kommen lassen; er hatte alles selbst inszeniert, sich die ganze Sache ausgedacht. Womit hatte er ein solches Ende verdient?
    Jury wunderte sich, warum ausgerechnet er über die Ungerechtigkeit des Lebens nachdachte. Er betrachtete die junge Frau auf dem Gemälde von Holman Hunt, die sich von den Knien eines Liebhabers erhob, der sie garantiert verlassen würde. Jury mochte vor allem die Inschrift, die Hunt auf den Rahmen gemalt hatte: »Wer aber ein Gewand in der Kälte raubet, gleicht dem, der einem schweren Herzen Lieder singet.«
    Er ging an dem Rossetti vorbei, dem Burne-Jones, Millais’ Ophelia , dem dreiteiligen Bild des unseligen Endes einer treulosen Gattin, und an dem Gemälde, von dem er einen Druck in der Hand hielt: Eine Ehefrau und eine Mutter trauerten um einen Seemann, der auf hoher See ertrunken war. Ein Morgen ohne Hoffnung: Jeder nur vorstellbare Grauton ergoß sich über dieses Bild - das Morgenlicht am Fenster, dahinter die Wellen, der Zinnständer mit der abgebrannten Kerze, die Schatten, die Kleider. Aus der Welt der Frauen war alle Farbe gewichen.
    Er kehrte zu der Stelle zurück, an der er seinen Gang durch die Tate begonnen hatte, und setzte sich wieder auf die Bank. Der Tod Chattertons war wohl doch sein Lieblingsbild. Eine Leinwand des Leides.
    Er hatte seit zwei Wochen Urlaub, war in Leeds gewesen und hatte sich entschieden: Nein, die endgültige Versetzung nach Bradford würde er doch nicht aushalten. Seine nächste Station würde Stratford-upon-Avon sein und danach Northampton. Er war sich ziemlich sicher, daß Superintendent Pratt ihn mit offenen Armen empfangen würde, die Mordkommissionen in der Provinz waren immer überlastet. Desgleichen Sammy Lasko bei der Polizei in Warwickshire, das wußte er. Aber wenn er ehrlich darüber nachdachte, mit wem er zusammenarbeiten konnte und wollte, lag der reizbare, arrogante, sture Macalvie an allererster Stelle. Auf der Bank in der Tate ließ Jury das Telefongespräch noch einmal an sich vorüberziehen.
    »Exeter? Devon-Cornwall? Mit mir wollen Sie zusammenarbeiten?«
    »Dreimal richtig geraten. Ein Rekord, sogar für Sie, Macalvie.«
    »Ich weiß nicht, Jury. Ich weiß nicht, ob Sie reinpassen. Außer mir merkt hier sowieso keiner, ob jemand beim Sex erstickt ist oder erdrosselt wurde. Wie bitte?«
    Die letzten beiden Worte waren offenbar an die Besitzerin der Stimme gerichtet, die in Macalvies Zimmer im Hauptquartier der Polizei von Exeter herumzwitscherte.
    »Wie ich höre«, sagte Jury, »hat Gilly Thwaite Ihnen gerade verraten, daß es eins von beidem ist.«
    »Eins von beidem, ja. Also, welches?«
    »Um Himmels willen, ich bin nicht an Ort und Stelle«, lachte Jury.
    »Na und?«
    »Ist das ein Test?«
    »Klar ... warum nicht? Sie wollen ja schließlich einen Job hier, oder?«
    Jury lächelte. »Erstickt. Plastiktüte überm Kopf?«
    »Stimmt.« Macalvie drehte sich wieder vom Telefon weg.
    Jury hörte, wie Gilly Thwaites ohnehin schon schrille Stimme - er nahm zumindest an, daß es sich um die Stimme von Macalvies Spurensicherungsexpertin handelte - noch schriller wurde, dann ein Getöse, als ob ein Regal umkippte, dann jede Menge zerbrechendes Glas und dann ein Jammern, das in einen grauenhaften Schrei überging.
    »Schönen Gruß von ihr. Hören Sie, Sie hat den Job.«
    »Ich habe nur geraten.«
    »Ich auch.«
    In Exeter fiel der Hörer auf die Gabel. Macalvies Art, auf Wiederhören zu sagen.
    Jury seufzte. Wenn er London leid war, mußte er, wie Dr. Johnson vorhergesagt hatte, das Leben leid sein. Chatterton war es leid gewesen. Jury verließ die Tate.
Kapitel 3
    »Also, wirklich, Mr. Jury«, sagte Mrs. Wassermann und umklammerte nervös die schwarze Handtasche, »ich meine, dieser Mr. Moshegeiian macht einen Fehler, wenn er Carole-Anne damit betraut, die Wohnung bei uns im ersten Stock zu vermieten.« Weiß hoben sich ihre Finger von dem schwarzen Leder ab, das Gesicht unter dem schwarzen Hut war bleich. Mrs. Wassermann hatte sich für einen ihrer seltenen Ausflüge zu ihrer Cousine in Bromley umgezogen und wollte sich gerade zur U-Bahn-Station Angel begeben. Aber jetzt befand sie sich
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