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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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dich.
    Ich sah ihr hinterher, wie sie die Treppe zur Straße hochstieg und dabei den Anruf entgegennahm.
    Ich hätte ein Wunder gebraucht. Nicht eine Frau wie aus einem Film oder einem Traum. Ich hätte ein Wunder gebraucht und ich wusste nicht, warum mir die Tränen in die Augen traten.
    Ein Wunder. Wie die Empfängnis. Ein Wunder. Sie hatte mit acht Finger, einen Handstand gemacht. Sie hatte gewusst, was mit mir los war. Ein Wunder.
    Man aß, man schlief, man hatte Sex, man saß am Fluss, man redete, man staunte, lehnte ab, kategorisierte die Dinge im Kopf, man war beeindruckt, vor allem von den eigenen Sorgen, aber auch ein wenig von den Bewegungen des Wassers. Man hatte Angst vor Mäusen und Löwen. Doch ich hatte sie ja schon gesehen, die Mäuse und Löwen. Nun wusste ich nicht, ob sie nicht schon wieder da waren. Vertrauen. Das war so leicht gesagt. Ich brauchte ein Wunder. Ein richtiges, nicht eines wie Licht, wie Luft, wie die Töne aus der Flöte.
    Ich steckte die Dose ein, ohne sie zu öffnen, und ging nach Hause.
    Nichts wurde leichter, immer noch legte mir die Angst Steine ins Herz, immer noch schaute ich jedes Mal, wenn ich auf die Toilette ging, ob Blut in der Hose war. Ich hatte Angst vor Gruben, vor Löwen, vor Mäusen. Es gab keinen Wendepunkt. Es war kein Film. Aber irgendetwas war anders nach dieser Begegnung.
    Allein diese Worte schienen einen Unterschied zu machen. Dass Vertrauen das Gegenteil von Angst war.
    Es war nicht mehr so, als lernte man eine neue Sprache und fürchtete, sich ständig in den fremden Wörtern zu verheddern, bis man nicht mehr hinausfand. Es war so, als gäbe es einen sicheren Grund. Als würde wenige Wörter schon reichen, wenn man nur die Hände und Füße dazu nahm. Man musste sich nur trauen. Vertrauen.
    Irgendetwas war anders. Man könnte glauben, dass es die Hormone waren. Doch das war es nicht. Irgendetwas war anders. Als würde man dort schwimmen, wo man den Grund nicht mal ahnen kann. Man ging nicht unter. Das war in ihrem Blick gewesen. Man ging nicht unter. So war es nicht beschaffen, das Wasser, man selbst, das Leben.
    Als ich schließlich die Dose aufmachte, war nichts darin. Ich musste lachen. Die Dose war leer. Was hatte ich auch erwartet?
     

Irenes Grund
    - Sie sind unglücklich und sie müssen eine Begründung dafür finden. Das ist nicht so einfach, wie man glauben möchte. Es reicht nicht, sich zu sagen: Ich bin unglücklich. Sie müssen es sich beweisen. Ich bin unglücklich, weil ich arm bin, weil ich nicht schön bin, weil die Menschen mich nicht verstehen, weil die Welt so kalt ist, weil alle immer nur Theater spielen, weil sie ihr Herz verschließen, weil es keine Gerechtigkeit gibt. Weil Hass, Verrat und Treulosigkeit überall knietief stehen. Ich bin unglücklich, weil ich mir mein Leben anders vorgestellt habe. Und immer, immer müssen sie suchen, damit ihnen die Gründe nicht ausgehen. Dauernd müssen sie sich beweisen, dass das, was sie fühlen, richtig ist. So ist der Mensch, könntest du sagen, aber sieh mich an, ich hätte alle möglichen Gründe, um unglücklich zu sein. mit dem Satz komm ich nicht ganz klar, da wechselt die Perspektive innerhalb dieses Monologs so plötzlich, ebenso plötzlich taucht das du auf, das vorher nicht präsent war. Besser wäre vielleicht, den vorhergehenden Satz wegzulassen (den es ohnehin nicht unbedingt braucht), dann wäre der Anschluss logischer (wenn es weiterhin ums Unglücklichsein geht), und nur zu schreiben: Aber sieh mich an: Ich hätte alle möglichen Gründe, unglücklich zu sein.
    Manchmal fragte ich mich, wie sie das machte, so lange ohne Gesellschaft zu bleiben. Sie ging nicht mehr raus, meine Eltern ließ sie nicht in die Wohnung. Irene hatte nicht mal ein Telefon. Wenn ich sie besuchte, redete sie viel, aber es wirkte nicht so, als wäre das ein Bedürfnis, das sie sonst unterdrückte. Mit den Auslieferern der Zustelldienste tauschte sie auch nur Grußformeln aus, und mit den Nachbarn sprach sie seit der Hausdurchsuchung kein Wort mehr. Ich wusste nicht, ob sie die Polizeibeamten beschimpft hatte an jenem Morgen oder in ihrer Gegenwart die Nachbarn, als vier Herren ihre gesamte Wohnung auseinandernahmen, weil sie glaubten, sie würde Cannabis züchten.
    - Die Nachbarn, hatte sie später gesagt, diese schlauen Nachbarn, die wünschen sich doch, sie hätten vier Mäuler, die sie sich zerreißen können, ein Maul zum Anschwärzen, eins zum Verleumden, eins zum Verketzern, eins zum Entwürdigen.
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