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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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Da klingelt die Polizei in aller Herrgottsfrühe an deiner Tür und macht einen Radau, als wollte sie eine Rockerbande einschüchtern. Das Leid der Menschen rührt daher, dass jedermann sich berufen fühlt, nicht nur Ratschläge zu erteilen, sondern auch noch in dein Leben einzugreifen. Bei der Polizei anrufen, weil ich so viele Pflanzen habe, die so komisch riechen. Weil man vom Flur ins Wohnzimmer sehen kann und es dort so grün ist. Und weil dort so viele Lampen hängen. Und weil diese Denunzianten mit ihrem eigenen Unglück nicht zufrieden sind, müssen sie schauen, ob es nicht in meiner Wohnung etwas gibt, das auch mich unglücklich machen kann.
    Irene hatte Natriumdampflampen und Metallhalogendampflampen, sie hatte mir die Unterschiede schon oft erklärt, aber ich konnte es mir nicht merken. Ihr Wohnzimmer stand voller Pflanzen, außer einem Sessel und einem kleinen Regal hatte darin nichts anderes Platz, große grüne Plastikwannen nahmen fast den gesamten Raum ein.
    Nach der Polizei hatten sich die Nachbarn an den Vermieter gewandt, doch der hatte keine Handhabe, Irene aus dem Haus zu klagen und hoffte nun, dass sie bald sterben würde.
    Meine Eltern hätten sie am liebsten im Altersheim gesehen, schließlich war sie schon 81, doch sie erfreute sich trotz wenig Bewegung und einseitiger Ernährung bester Gesundheit. Sie war seit zehn Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen und aß hauptsächlich Erdnüsse und Eiscreme. Sie machte auch sonst nichts von dem, wovon die Menschen angeblich glücklicher und gesünder wurden. Sie glaubte nicht an Gott, sie arbeitete nicht ehrenamtlich, sie hatte keine sozialen Kontakte, sie war nicht mal Mitglied in irgendwelchen Internetforen. Sie besaß keinen Fernseher und kein Radio, doch sie nutzte das Internet. Dort kaufte sie Samen, Erde, Lampen, Eis, Erdnüsse, Dünger, Klopapier, Alkohol, um Pflanzenauszüge zu machen, Flakons und Fläschchen.
    Wenn es um Versandhäuser ging, die exotische Samen oder seltene ätherische Öle führten, war Irene Expertin. Musste sie sein, anders war ihr Wohnzimmer nicht zu erklären. Doch davon sprach sie nie. Meistens hörte ich Tiraden gegen alles und jeden und ich fragte mich, ob Irene sich wohl auf meine Besuche freute. Immerhin, wie wenig es auch war, das ich sagte, sie konnte sich alles merken, auch wenn sie sich nicht weiter dafür zu interessieren schien. Mein Auftauchen nach einem vereinbarten Klingelzeichen schien sie eher gleichgültig hinzunehmen.
    Wirklich interessierten sie nur ihre Pflanzen und ihre Gründe, wie sie es nannte. Bei allen anderen Themen schimpfte sie. Sie schimpfte über meinen Vater, ihren Sohn, der sich aus Angst vor dem Leben eine Frau gesucht hatte, die alle Entscheidungen im Alleingang traf und die sie am liebsten ins Altersheim gebracht hätte. Angst vor dem Leben, das hätte man Irene auch vorwerfen können, aber sie hätte nur gelacht. Sie schimpfte über meinen Opa, der vor fast zwanzig Jahren, kurz nach meiner Geburt, gestorben war. Sturzbesoffen mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Als Besitzer einer Baumschule. Das brachte Irene immer noch zum Lachen.
    Man hätte sie für unglücklich halten können, wenn sie schimpfte, keifte und belferte, wenn sie sich in ihrer Rage aus dem Sessel hochstemmte und ihren Zorn mit ihren Händen unterstrich, während sie zwischen den Pflanzen auf und ab ging.
    Irene zweifelte. Sie zweifelte an der Welt, in der wir lebten, an unserem Gesellschaftssystem, am Sozialstaat, am Wert der Wahrheit, an den Nachbarn sowieso, an ihrem Sohn, und auch an mir, weil ich nicht richtig studierte und nicht in der Lage war, Entscheidungen zu treffen. Sie zweifelte nicht an der Boshaftigkeit, der Niedertracht und der Dummheit der Menschen. Und sie zweifelte nicht an ihrem Verstand. Niemals.
    - Sie wollen einen verrücken, sagte sie, sie wollen einen vom eigenen Weg abbringen und dann sagen, man sei verrückt, weil man nicht ihren Weg geht. Sie sind so schlau heute, sie sind alle so schlau und hätten am liebsten hundert Mäuler. Sie glauben nicht mehr an Gott, an die Religion, an Geister und Gespenster. Sie glauben an den Fortschritt und die Wissenschaft und dass sich alles um den Menschen dreht und dass alle Rätsel gelöst werden. Dabei geht es um die Pflanzen. Die waren vor uns hier und die werden nach uns hier sein, sie werden auch in unseren Städten leben, nachdem wir ihnen geholfen haben, sich in der ganzen Welt zu verbreiten, dem Chili, den Tomaten, dem Tee, den Brennnesseln, dem
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