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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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verlieren als ein Leben.
    Wieder drehte ich den Kopf, doch dieses Mal ließ ich die Höflichkeit weg, ich machte ein Gesicht, das verdeutlichte, dass ich allein sein wollte. Ich hoffte, ich machte dieses Gesicht.
    Mein Blick fiel auf ihre Hand. Ihr fehlten Mittel-und Ringfinger der linken Hand. Verloren. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und blickte wieder auf den Fluss. Ein Teil meiner Aufmerksamkeit war dennoch bei ihr. Ich war genervt, obwohl sie möglicherweise nichts dafür konnte dafür, dass er genervt ist, kann sie wohl in jedem Fall was, oder? Wäre nicht besser: obwohl sie es möglicherweise nicht darauf anlegte?. Immerhin hielt sie nun den Mund. Ungefähr zwei Minuten lang.
    - Einer der häufigsten Gründe, warum Menschen sich allein fühlen, ist, dass sie allein sein wollen, sagte sie.
    Ein drittes Mal drehte ich den Kopf und sah sie an. Sie mochte Anfang vierzig sein, ihr kinnlanges Haar war von einem stumpfen Blond und brauchte dringend einen neuen Schnitt. Sie war ungeschminkt, trug eine braune Strickjacke, blaue Jeans und flache Lederhalbschuhe, die vorne leicht spitz waren, in einem Braun, das nicht ganz zu ihrer Jacke passte. Ich hätte sie als spießig, langweilig oder uninteressant eingeordnet, wenn dieser Blick nicht gewesen wäre. Ihre Augen waren blassblau und nicht besonders eindrucksvoll, aber ihr Blick war offen wie ein Meer.
    Ich sah nach vorne. Es war wie eine Szene aus einem zweifelhaften amerikanischen Blockbuster. Junge Frau sitzt allein am Fluss, augenscheinlich traurig. Ältere Frau setzt sich neben sie und spricht mit ihr. Einige simple Weisheiten verändern die Perspektive der jungen Frau und geben ihr Kraft und Hoffnung.
    Nicht, dass ich das nicht gebraucht hätte. Doch das hier war kein Film. Es fehlte die Musik. Doch die fehlte mir schon lange.
    Was dann geschah, erschien mir surreal an besser: erschien mir surreal. Die Frau kippte nach vorne, bis ihr Oberkörper auf ihren Schenkel war, gab die flachen Hände auf den Boden, hob das Gesäß, ihre Beine grätschten sich, verließen den Boden und hoben sich Richtung Himmel, bis sie im Handstand war. Oben gab sie die Beine zusammen, und nach drei, vier Sekunden ging es auf demselben Weg zurück. Sie setzte sich und legte ihre Hände auf ihren Bauch.
    Sie wirkte weder stolz, noch cool, noch bescheiden. Hätte man es nicht gesehen, hätte man nicht geglaubt, dass sie gerade noch im Handstand gewesen war. Nicht mal ihr Atem ging schwerer.
    Es dauerte einige Momente, bis ich mich wieder hatte. Na und? Dann gab es halt bieder aussehende Frauen, denen zwei Finger fehlten und die sich in den Handstand drücken konnten. Was änderte das? Was änderte das daran, dass ich mich fühlte, als würde jeden Tag jemand einen neuen Stein in mein Herz legen? Dass ich nicht wusste, wie ich all diese Steine bis zum Ende der drei Monate tragen sollte?
    Es gab Frauen, für die sich das erste verlorene Leben schon wie eine Katastrophe anfühlte. Ein Leben, das nicht in dir wachsen will. Es passierte häufiger, als darüber gesprochen wurde. Das tröstete ein wenig. Denn das war es ja, was man suchte, Trost.
    Beim zweiten Mal weißt du, dass mit jeder Fehlgeburt das Risiko einer weiteren Fehlgeburt steigt. Spätestens beim zweiten Mal fängst du an zu glauben, dass etwas mit dir nicht stimmt. Mit deinem Körper. Mit deiner Ernährung. Mit deinem Kopf. Mit deinem Leben. Beim zweiten Mal hilft der erste Trost schon nicht mehr. Trost ist meist nur Einweg-Trost.
    Beim zweiten Mal geht die Trauer dir an die Kehle, schnürt sie zu, rüttelt an deinen Grundfesten und versucht dich vollständig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dein Mann, falls du einen hast, steht hilflos daneben, hilflos, sprachlos, trostlos. Dann geht er mit seinen Freunden ins Kino. Das ist seine Art, mit Problemen umzugehen. Weg und abschalten.
    Abschalten. Wenn ich nur auch einmal abschalten könnte.
    Wenn das Leben in dir zum zweiten Mal einfach aufhört und dein Körper es nicht abstößt, musst du womöglich ins Krankenhaus. Zur Ausschabung. Sie klären dich darüber auf, dass deine Gebärmutter Schaden nehmen kann, dass du unter Umständen nie Kinder bekommen wirst. Unterschreiben Sie hier.
    Das wünscht man niemandem.
    Beim dritten Mal weißt du nicht, wie du ein drittes Mal ertragen sollst. Beim dritten Mal ist es, als würde jemand die Namen der Sorgen auf Steine schreiben und dann in dein Herz legen.
    - Das geht anderen auch so, sagte die Frau.
    - Bitte?
    - Das geht
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