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Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom

Titel: Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Autoren: Ayse Auth
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erste Beobachtung eines Doppelsterns in einer fremden Galaxie und die Transplantation eines menschlichen Herzens. Nach schier endlosen Vorbereitungen führten 1967 auch die Schweden den Rechtsverkehr und die Deutschen das Farbfernsehen ein. In England setzte man schon voll und ganz auf die Finanzwirtschaft: Dort bezog jemand erstmals Bargeld aus einem Automaten! Und last, but not least, wurde in Bellinzona mein Landsmann Kubilay Türkyılmaz geboren. Wie, den kennen sie nicht? Aber das war doch der erste Türke, der für ein anderes Land Fußball-Nationalspieler wurde! »Kubi« riefen ihn zärtlich
seine zahlreichen Schweizer Fans, was ja wohl bezeugt, dass dort schon im Jahr 1967 eifrig an den Grundlagen für die Integration von Ausländern gearbeitet wurde.
    Genau sechs Minuten, nachdem im Krankenhaus von Darmstadt-Jugenheim meine Zwillingsschwester Hatice aus meiner Mutter Muazzez geschlüpft war, rief die Hebamme:
    »Moment mal, da kommt ja noch jemand!«
    Gut, dass es wenigstens ihr noch aufgefallen ist. Ja, das war dann ich. Mich hatte keiner auf der Rechnung. Am allerwenigsten meine Mutter.
    Hati und ich sind eineiige Zwillinge. Naturgemäß sind wir uns äußerlich sehr ähnlich, aber wir haben doch ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Astrologisch gesehen müssten wir beide Paradebeispiele für den Fische-Charakter sein, denn dies ist nicht nur unser gemeinsames Sternzeichen, sondern auch unser beider Aszendent. Ich allerdings, nur für mein Teil, mag mich damit nicht voll und ganz einverstanden erklären. Etwa weil ich dem Sternzeichen Widder ganze fünf Minuten näher bin als Hati? Jedenfalls fühle ich mich eher als feuriger Geweihträger denn als stilles Flossenwesen.
    Als unsere Mutter in die Geburtsklinik fuhr, stellte sie sich innerlich auf ihr fünftes Kind ein. Dass ich als sechstes bei dieser Gelegenheit gleich noch mitgeliefert würde, darauf war keiner gefasst. Nicht mal unser Vater, Turhan, obwohl der eigentlich hätte wissen müssen, dass es irgendwann doppelten Nachwuchs geben musste, bei dieser Produktivität. Schließlich waren in seiner Familienlinie Zwillingsgeburten keine Seltenheit. Leider hatte, solange man
zurückdenken konnte, stets nur eines von zwei Kindern überlebt. Bei Hati und mir war das zum ersten Mal anders! Ein gutes Omen, möchte man meinen - und wenn man an so etwas glaubt, darf man sich jetzt durchaus bestätigt fühlen, obwohl es noch eine ganze Weile dauern sollte, bis das Glück uns beiden lachte. Dass sich jedoch ausgerechnet in meiner eigenen Zwillingsmutterschaft das schwere Familienschicksal fortsetzen sollte, das war damals am allerwenigsten zu erahnen.
     
     
    Eine ganz normale türkische Gastarbeiterfamilie im Ausländerviertel von Darmstadt, nach unserer Ankunft zu acht in einer Zweizimmerwohnung. Der Vater schuftete auf dem Bau, hatte sich zum Kolonnenführer hochgearbeitet. Die Mutter stand in einer Wandfarben-Fabrik am Fließband. Unter solchen Umständen wird das Leben nicht eben einfacher, wenn plötzlich gleich zwei kleine Schreihälse neu hinzukommen.
    Olmucak diye bir şay yok - geht nicht gibt’s nicht! Das war das Überlebensrezept für ungezählte Familien, wie wir es waren. Nie ist der Lebenstüchtigkeit dieser Menschen das Lied gesungen worden. Waren sie nicht die stillen Helden des deutschen Wirtschaftswunders? Was meine Eltern betraf, so mussten sie nach unserer Geburt ihr Leben nochmals rigoros umstellen. Es hieß für sie, ihre Arbeitsschichten so abzustimmen, dass sie sich abwechselnd um uns kümmern konnten. Unter der Woche dürften sie sich also praktisch kaum noch gesehen haben.
    Auch unsere älteste Schwester, Aynur, musste mit ihren zwölf Jahren nach Kräften mithelfen, vor allem, indem sie
auf die elfjährige Naime und meine Brüder Ahmet (5) und Mehmet (4) aufpasste. So ist es eben in einer türkischen Familie: Die älteren Geschwister kümmern sich um die Jüngeren. Sie erziehen sie gewissermaßen mit, im Auftrag der Eltern. Ein weiteres ungeschriebenes Gebot: Der Fruchtbarkeit sind keine Grenzen zu setzen. Weiterer Kindersegen wurde vom Himmel erteilt durch unsere jüngere Schwester Cavidan sowie Nesthäkchen Ali, die ein beziehungsweise zwei Jahre nach uns zur Welt kamen. Aber da hatten wir Zwillinge bereits ein anderes Leben bekommen …
    Es war eine Frau, die dafür gesorgt hat - und auch noch im Alleingang. Sehr ungewöhnlich in einer türkischen Familie. Aber bei dieser Frau war fast alles ungewöhnlich. Arife, die man
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