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Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom

Titel: Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Autoren: Ayse Auth
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auch Arife Büyük Ana , Arife die Große, nannte, lebte in der Türkei. Sie war unsere Großmutter väterlicherseits - und das unangefochtene Alphatier der ganzen Sippe. Nach altem Brauch wurde sie meist Babanne gerufen: Vatermutter.
    Ich habe oft und eingehend darüber nachgedacht, was ich heute wohl sein und tun würde, wenn diese starke Frau damals nicht so massiv in unser Leben eingegriffen hätte. Aber das ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, ist doch das Leben so viel stärker als die menschliche Vorstellungskraft. Und wie sagt man seit alters im Orient: Es kommt doch immer so, wie es kommen soll - früher habe ich dagegen rebelliert, doch heute bin ich darob nicht mehr unglücklich.

    Meine Eltern müssen sehr erstaunt gewesen sein, als sie den Umschlag mit den knallbunten türkischen Briefmarken erhielten. Absender: Arife. Es musste etwas sehr Wichtiges, etwas geradezu Lebensentscheidendes sein, wenn die Vatermutter einen Brief schreiben ließ.
    »Mein geliebter Sohn«, stand da in gestochener, etwas altmodischer Handschrift. Babanne hatte den Brief offensichtlich von einer Person anfertigen lassen, die derselben Generation angehörte wie sie. Anscheinend von jemandem, der darin geübt war, offiziell wirkende Schreiben zu verfassen. Die Form entsprach dem Inhalt, wie sich sogleich zeigen sollte. Und wie es die Art unserer Großmutter war, kam sie gleich zur Sache:
    »Nach reiflicher Überlegung habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich werde eine deiner Zwillingstöchter zu mir nehmen. Dann habt ihr ein bisschen mehr Luft in der Wohnung, und mir tut es auch gut.«
    Dann gerade noch ein kurzer Gruß an den geliebten Sohn, und fertig. Hier teilte sich ein Mensch mit, der wusste, was er wollte. Und auch, wie er andere dazu bringen würde, dabei mitzutun. Ja, das konnte Arife die Große sehr gut, sowohl bei ihrem Mann als auch bei ihren Söhnen.
    Unsere Familienchefin war damals 66 Jahre alt. Sie und Opa Ali waren bereits auf dem Altenteil. Wie allgemein üblich in ihrer Generation, waren sie in sehr jungen Jahren vermählt worden. Arife selbst hatte den Ausschlag für die Verbindung gegeben. Aber wohl mehr aus praktischen Erwägungen denn aus Liebe. Arifes Eltern besaßen ausgedehnte Ländereien, und der junge Ali war Verwalter ihrer gesamten Anwesen. Da es keinen männlichen Erben gab
und Arife möglicherweise einer arrangierten Ehe zuvorkommen wollte, griff sie sich ihren Ali, bevor es zu spät war.
    Die Jahre flossen dahin, und insgesamt vier Kinder wuchsen heran. Aber kaum näherte sich der Erstgeborene dem Mannesalter, wurde Ali von Arife mehr oder minder entmachtet. Nach und nach übertrug sie die Verantwortung für Haus und Hof Turhan, unserem Vater.
    »Ich war zu Hause schon als Sohn der Mann im Haus«, pflegte dieser amüsiert zu sagen. Was die Chefstelle unter seiner Mutter betraf, sprach er damit sicherlich die Wahrheit.
    Unser Baba war Babannes »Ein und Alles«, wie man so sagt. Die Position als Lieblingssohn dürfte seinen ausgeprägten Stolz noch gefördert haben. Aber wie das Leben so spielt: Sämtliche Annehmlichkeiten, die für Turhan mit seinem Platz an der Sonne im Hause Arifes verbunden waren, wurden irgendwann von etwas noch Besserem überstrahlt. Die Kunde von einer glänzenden Zukunft in Deutschland eilte damals durch die türkischen Dörfer. Ihrem Zauber vermochte auch mein Vater nicht zu widerstehen.
    Für Babanne war es ein schwerer Schlag, dass Turhan nach Deutschland ging. Später zogen auch ihre drei anderen Kinder fort und gründeten ihre eigenen Familien. Ja, es war wohl schlicht und ergreifend die Einsamkeit, die sie den Brief schreiben ließ, der für uns Zwillinge von so schicksalhafter Bedeutung war. Nicht zuletzt wird sie sich ausgerechnet haben, wieder mehr Zugang zu ihrem Liebling zu bekommen, wenn eines seiner Kinder bei ihr aufwüchse.

    Für meinen Vater jedenfalls war der Wunsch seiner Mutter Befehl. Er fügte sich ohne sichtbaren Widerstand. Allerdings unterwarf er sich auf eine Art und Weise, die mir im Nachhinein als höchst interessant erscheint. Und zwar, weil es exemplarisch zum Ausdruck bringt, wie man in unserer Familie mit Schwierigkeiten umging.
    Baba nahm sich nicht etwa Urlaub, um in die Türkei zu fahren und unter vier Augen mit seiner Mutter über ihr erstaunliches Anliegen zu sprechen. Er rief nicht einmal bei ihren Nachbarn an, die doch über ein Telefon verfügten, um wenigstens fernmündlich ein persönliches Gespräch mit ihr zu führen.
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