Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frauenbataillon

Frauenbataillon

Titel: Frauenbataillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
umkreiste ihn, rannte durch Lärchenwälder und Kieferndickichte, lag hinter hohen Beerensträuchern auf der Lauer, robbte wie im Krieg, das Gewehr in den Armbeugen, durch Sümpfe und felsige Schluchten. Aber immer, wenn er glaubte, er habe ihn im Visier, wenn er das Gewehr hochriß und den schwarzbraunen Klotz im Fadenkreuz hatte, war der Bär schneller, warf sich zur Seite, verschwand zwischen den Steinen, tauchte unter im verfilzten Urwald.
    Vor dreißig Jahren war es nicht anders gewesen. Auch damals war es darauf angekommen, selbst unsichtbar zu sein, dabei den Gegner im Fadenkreuz zu behalten und mit angehaltenem Atem abzudrücken. Und noch bevor er den Rückschlag des Gewehres abgefangen hatte, hatte er stets gewußt: Ich habe getroffen. Ein Strich im Abschußbuch. Jedesmal hatte es ihn innerliche Überwindung gekostet, einen solchen Strich einzutragen, auch wenn er sich stets sagte: Es ist Krieg! Der Gegner da drüben handelt nicht anders, und heute warst du eben schneller und listiger als er. Morgen kann er der Bessere sein, und dann liegst du selbst mit einem sauberen runden Loch in der Stirn auf dem granatenzerrissenen Boden. Der fade Geschmack, den er empfand, wenn er seinen Strich machte, blieb: Das war ein Mensen.
    Hier war es ein Bär. Und dieser Bär war ein verdammt kluger Bursche. Neun Stunden dauerte der Zweikampf, neun Stunden umschlichen sie einander, belauerten sich, spielten Verstecken, bis Pjotr resignierte und den Kampf aufgab. Das hier ist deine Heimat, dachte er. Hier kennst du dich aus. Aber auch ich kenne dich jetzt, mein Bärlein! Auf die Dauer entkommst du mir nicht. Morgen bin ich wieder hier, und übermorgen, und in der nächsten Woche, und, wenn es sein muß, auch den ganzen nächsten Monat über. Ich werde so lange hier sein, bis ich dich besiegt habe. Es ist nicht wegen deines Felles, schöner Bär, nein, jetzt geht es an die Ehre, verstehst du? Noch keiner, den Pjotr Herrmannowitsch im Visier hatte, ist entkommen.
    Aber das stimmte nicht. Es hatte sehr wohl einen Augenblick gegeben, da er seinen Gegner ganz klar und deutlich im Zielfernrohr gesehen hatte, da der Mittelpunkt der Schnittlinien des Fadenkreuzes genau auf der Stirn lag und er nur den Finger ein wenig hätte krümmen müssen, um das Abschußbuch um einen neuen Strich bereichern zu können. Aber er hatte nicht abgedrückt. Es war ihm, als sei ein Stein auf sein Herz gefallen – und er hatte das Gewehr gesenkt.
    Damit hatte alles begonnen, was nun, dreißig Jahre später, zu Ende gehen würde. Damals, am 1. Juli 1943, südlich von Belgorod am nördlichen Donez. Er hatte gezögert. Und mit diesem Zögern hatte er sein altes Leben hingeworfen und ein neues Leben gewonnen.
    Mit diesen Erinnerungen beschäftigte sich Pjotr, als er das Feuer entfachte, in die Flammen blies, den Teekessel und den Suppentopf aufhängte, die Weidengerte für das Fleisch schärfte und die Vorbereitungen für ein kräftiges Essen traf. Es war ein schöner Nachmittag im Frühsommer, und die Taiga leuchtete blau in der Sonne. Die Lärchennadeln schimmerten in sattem Blaugrün, als sei der Himmel in sie übergelaufen, die Erde duftete herb, Vogelscharen lärmten und flatterten in den Wipfeln, und in der Senke rauschte das Wasser des Wildbaches über die glattgeschliffenen Steine.
    Die Natur singt, hatte Stella einmal gesagt. Da lagen sie im Wald und liebten sich zwischen Farnen, Beerensträuchern und Kiefernsprößlingen. Vor zwanzig Jahren war das gewesen. Das erste Kind war längst geboren, sie besaßen ein schönes Haus, einen riesigen gemauerten Ofen und ein breites Holzbett, aber wenn sie gemeinsam in der Taiga jagen gingen, überfiel es sie oft wie ein Rausch, und dann liebten sie sich unter dem weiten Himmel oder unter turmhohen Bäumen und waren glücklich wie nie zuvor. So zeugten sie auch Nani, ihr zweites Kind, ein Mädchen … an einem Wildbach wie diesem, elf Werst weiter im Süden. Der Morgen war so warm, daß hinter ihnen der Wald zu dampfen schien und Dunstnebel über sie hinwegzogen, als Stella in seine nackte Schulter biß und ihn empfing.
    Pjotr erinnerte sich noch genau daran. Er entfernte sich von dem Feuerchen, ließ sein Gewehr im Gras liegen und ging ein paar Schritt weiter zu den niedrigen Walderdbeersträuchern, an denen er die ersten roten Beeren erspäht hatte. Es war durchaus nicht seine Art, diese von der Natur angebotene Vorspeise abzulehnen. Er bückte sich, pflückte eine Handvoll, probierte sie, fand die Beeren noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher