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Frau Ella

Frau Ella

Titel: Frau Ella
Autoren: Florian Beckerhoff
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weiter vor sich hin. Etwas vorsichtiger schlich er an sie heran und sah ihr neugierig in den Mund. Hinter schmalen, blutleeren Lippen glänzten zwei Reihen weißer Zähne. Wenn die mal echt waren. Als er seine rechte Hand ausstreckte, um ihr die Nase zuzuhalten, änderte sich plötzlich der Rhythmus ihrer Schnarcherei. Er fühlte sich beobachtet und trat den Rückzug an. Wenn sie auch nachts so lärmen sollte, würde er weniger schüchtern sein und zugreifen. Dann schlurfte er die drei Schritte rüber zu seinem Bett, schlüpfte aus den Hausschuhen und ließ sich fallen, um mit dem Gedanken daran, dass er sich jetzt auch einen runterholen könnte, Trübsal zu blasen. Jeder Tag war wie ein Langstreckenflug, einmal um den Globus, in der Touristenklasse, mit schlechten Filmen, übergewichtigen, schwitzenden Sitznachbarn, warmen Getränken, Käsescheiben, die den Geschmack der sich an sie schmiegenden Wurst angenommen hatten. Ihm war schlecht, aber nicht schlecht genug, als dass er hätte kotzen können.
    Wie war er nur in diese Scheiße geraten? Plötzlich war die ganze Energie weg, die er im Winter gesammelt hatte, um endlich loszulegen. Selbst der strahlend blaue Himmel draußen erinnerte ihn an sein Scheitern, daran, dass er hatte aufbrechen wollen und im Leben dieser oder einer anderen Stadt dieses oder jenes zu bewirken. Immer dieselben Gedanken, so originell wie ein schmerzender Pickel, der nicht so weit reifen wollte, dass er ihn hätte ausdrücken können. So wie sein Auge, das juckte, aber nicht weh tat, das verletzt, aber nicht zerstört war, das sich irgendwie im Vagen hielt und Zeit brauchte. Er müsse Geduld haben, sich möglichst viel Ruhe gönnen und abwarten, hatten sie ihm immer wieder gesagt, mit diesem wohlwollenden Blick. Er war verloren im Zwischenbereich.
    Er tastete nach der Fernbedienung und suchte eine Tiersendung, als er zunächst ungläubig, dann beim zweiten Mal mit voller Gewissheit hörte, wie seine neue
    Zimmernachbarin in der kurzen Pause zwischen einem Ein- und Ausatmen, mit einer Kraft, die er keiner Frau, und schon gar nicht einer dieses Alters, zugetraut hätte, furzte. Er drehte sich um und blickte in ein von faltiger Haut fast verdecktes, verschlafenes blaues Auge, das ihn musterte. Eine Oase in trockener Steppe. Ein glänzendes Wasserloch. Wie verdorrte Sträucher krümmten sich einige Haare auf ihrem Kinn. Eine fremde Welt.
    »Da bin ich doch tatsächlich mitten am Tag eingeschlafen«, sagte sie verträumt und lächelte. »Freitag. Ella Freitag.«
    »Sascha«, stammelte er. »Sascha Hanke.«
    »Aha«, sagte sie.
    Unsicher, ob sie sich mit ihm unterhalten wollte und ob er sich darauf einlassen sollte, zögerte er, die Kopfhörer aufzusetzen, wusste aber auch nicht, was er noch sagen könnte.
    »Und, waren Sie schon unterm Messer?«, fragte sie.
    »Ja, vor Tagen.«
    »Schlimm?«
    »Nicht wirklich. Heilt aber irgendwie nicht.«
    Sie beäugte ihn weiter, noch etwas verschlafen, aber anscheinend nicht unfreundlich.
    »Entschuldigen Sie, wenn ich so unverschämt bin. Aber könnten Sie mir vielleicht meinen Morgenmantel aus dem Schrank reichen?«
    Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie ihn, kaum hatten sie die ersten Worte gewechselt, schon zum Diener degradierte. Sollte sie sich ihren Morgenmantel doch selber holen! Wortlos stand er auf und reichte ihr das Stück Stoff, das mit seinem verblassten Blumenmuster vor Jahrzehnten vielleicht einmal modern gewesen war, und legte sich wieder hin.
    »Vielen Dank«, sagte sie. »Wissen Sie, Sie sind seit dem Tod meines Mannes der erste Mann, mit dem ich in einem Zimmer schlafe. Das ist immerhin schon zwanzig Jahre her. Da wird man wohl etwas schüchtern. Seltsam, so einen Morgenmantel am Nachmittag zu tragen. Wäre ich nur mal zu Hause geblieben.«
    Wieder war ihm nicht gleich klar, was sie ihm sagen wollte. Die Jahre zwischen ihnen waren ein Gebirgszug zwischen zwei Völkern. Sie hatten sich zufällig auf der Passstraße getroffen, nicht feindselig, nur verständnislos. Sie würden sich grüßen, um anschließend wieder jeder seines Wegs zu ziehen. Erst als er sah, wie sie unter ihrer Decke in den Bademantel schlüpfte und dann, mit einem entschuldigenden Lächeln in seine Richtung, langsam aufstand und ins Badezimmer ging, verstand er.
    »Keine Ursache«, murmelte er. »Ist doch ganz normal.«
    Dann sah er einer verschwommenen Gruppe Nilpferde beim Baden in einem Schlammloch zu. Er brauchte dringend seine Ersatzbrille, dachte er,
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