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Frag die Toten

Frag die Toten

Titel: Frag die Toten
Autoren: Linwood Barclay
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Außerdem hatte er das Regal nie an der Wand befestigt.
    Deshalb neigte es sich jetzt nach vorn, zuerst in Zeitlupe, dann mit zunehmender Geschwindigkeit.
    Die obersten zwei Reifen kippten als Erstes um. Einer traf Kirk an der Schulter und warf ihn zu Boden. Den Bruchteil einer Sekunde später landete der andere erst hochkant auf seinem Oberkörper, fiel dann aber um, so dass er auf Kirks Gesicht zu liegen kam und der Felgenrand auf seine Kehle drückte.
    Als das Regal sich weiter neigte, fielen auch die beiden Reifen auf dem mittleren Brett herunter. Einer landete auf Kirks Knie, der andere auf dem Teppich.
    »Ja!«, sagte Justin. »Hast du davon, Arschloch.«
    Er wirbelte herum, ein wenig schwindlig, und sah gerade noch, wie Keisha ausholte und mit der Bierflasche auf seinen Kopf zielte.
    Sie ließ die Flasche sofort fallen. Der Schmerz des Aufpralls – die Flasche hatte Justin mitten auf die Stirn getroffen – schoss ihr durch den ganzen Arm. Die Flasche zerbrach nicht, nicht einmal, als sie zu Boden fiel, aber sie erfüllte ihren Zweck. Justin taumelte nach hinten, schlug mit dem Rücken gegen die Wand, an der eben noch das Regal gestanden hatte, und rutschte an ihr entlang zu Boden.
    Keisha stand da, und ihr keuchender Atem war das einzige Geräusch im Raum.
    Sie betrachtete das Schlachtfeld. Das umgeworfene Regal, die herumliegenden Reifen und Kirk darunter. Justin daneben, bewusstlos.
    »Mensch«, sagte sie.
    Sie ging in die Hocke und legte eine Hand auf Justins Brust. Er war zwar weggetreten, aber nicht endgültig. Sie spürte sein Atmen unter ihrer Hand.
    Auch Kirk lebte noch. Er hüstelte.
    »Süße«, sagte er. »Ich kann … ich kann mich nicht rühren.«
    Er gab ein würgendes Geräusch von sich. Keisha ging zu ihm, schwang ein Bein über einen der Regalpfosten, um ihn besser sehen zu können. Sie sah ein Auge zwischen den Speichen, sah, wie die Felge auf seine Luftröhre drückte. Das Regal war auf dem Reifen gelandet und klemmte ihn dort ein.
    Keisha würde erst das Regal hochstemmen müssen, ehe sie Kirk von dem Reifen befreien konnte.
    »Hey«, sagte Kirk. »Nimm das … nimm das runter.« Er bemühte sich, die Felge zu verschieben, hatte jedoch nur eine Hand zur Verfügung, weil die andere unter seinem Oberkörper eingeklemmt war. Mit der freien Hand allein hatte er nicht genügend Kraft.
    Keisha überlegte.
    Überblickte die Lage.
    Dachte an Matthew.
    Vielleicht gab es doch noch einen Ausweg. Eine Möglichkeit, mit einem blauen Auge davonzukommen und ihren Jungen behalten zu können.
    »Hey!«, sagte Kirk. »Bist du … taub oder was? Ich brauche … Hilfe.« Er hustete.
    Es gab so viel, an das sie denken musste. Und so wenig Zeit. Sie musste es erledigt haben, bevor Justin zu sich kam.
    Das hier war ihre Chance.
    »Hey«, sagte Keisha und sah ihn zwischen den Speichen hindurch an.
    »Krieg … keine Luft«, sagte er.
    »Sieht schlimm aus«, sagte sie. »Muss saumäßig weh tun.«
    »Verdammt … was! Das Regal … weg.« Es klang, als ginge ihm langsam die Luft aus.
    »Ich glaube, ich habe einen Ausweg gefunden, Kirk«, sagte sie. »Vielleicht klappt’s nicht, vielleicht aber doch. Ich muss es drauf ankommen lassen.«
    »Was … Scheiß?«
    »Aber mit
dir
klappt’s ganz bestimmt nicht. Wenn Wedmore dich in ein Zimmer setzt und in die Mangel nimmt, also ich glaube nicht, dass du sie austricksen kannst, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »…stück …«
    »Du bist mein schwaches Glied, Kirk. Tut mir leid. Du warst mal ein richtig lieber Kerl, weißt du? Als wir uns kennenlernten, da hast du mir echt den Kopf verdreht. Du warst so süß, so aufmerksam.« Da war wieder der Kloß in ihrem Hals. »Aber das war alles nur Schau. Du hast dich in mein Herz gestohlen«, sie legte eine Hand zwischen ihre Brüste, »bevor ich kapiert habe, was für ein wertloses Stück Scheiße du bist.«
    Er sagte nichts, sah sie nur mit diesem einen Auge an.
    »Auch vor zwei, drei Stunden hätte ich’s wahrscheinlich noch nicht übers Herz gebracht. Ich hätte dir wahrscheinlich hier rausgeholfen. Aber nach dem, was du Matthew eingeredet hast, dass ich ihn wegschicke, auf eine Militärschule …« Sie schüttelte den Kopf, und eine Träne rollte ihr über die Wange und tropfte zwischen den Speichen hindurch auf Kirks Stirn. »Das hat dir den Rest gegeben.«
    »Süße …«
    Sie stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf das Regal, das wiederum den Reifen fester auf Kirks Kehle drückte. Es gelang ihr, erst einen,
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