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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
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lange den Trauernden spielt, hat man kein Gewissen mehr. In dieser Welt kann man sich kein allzu heißes Blut leisten! Heute haben wir freie Meinungsäußerung und politische Entspannung, da wird so etwas vielleicht sogar verlangt, da soll man sich engagieren. Von mir aus. Und wenn sie von deinem heißen Blut genug haben? Dann geht es ab ins Arbeitslager, dann kneifst du für zwanzig, dreißig Jahre den Schwanz ein. Ein Mensch darf kein Gewissen haben!
    LIAO YIWU:
    Hat sich Eure Truppe aufgelöst?
    LI CHANGGENG:
    1951 ging es in in alle Himmelsrichtungen. Danach hat man es gemacht wie die Musiker hier alle, an normalen Tagen hat man zu Hause als Bauer seine Arbeit getan, und wenn im näheren und weiteren Umkreis eine Hochzeits- oder Trauerfeier anstand, dann sind die Leute von selbst vorbeigekommen und haben einen engagiert.
    Und weil ich einen Namen hatte, sind die Verdienstmöglichkeiten übers Jahr nie abgerissen. Man hat mir auch vorgeschlagen, wieder eine Truppe zu gründen und wieder zu tingeln. Ich habe mir das gründlich überlegt, wollte dann aber doch nicht. Das wäre nämlich eine nichtstaatliche Organisation gewesen, und wer wäre dafür zuständig gewesen? Eine Organisation, für die keine Behörde zuständig ist, ist in China illegal, und von illegal bis reaktionär ist es nur ein Schritt, damit wollte und will ich nichts zu tun haben!
    LIAO YIWU:
    Ihr seid ein kluger Mann. Ihr beschämt mich. Andererseits möchte ich Euch noch etwas erzählen.
    LI CHANGGENG:
    Nur zu, ich höre.
    LIAO YIWU:
    Ich habe, wie gesagt, auf dem Land meine Kindheit verbracht, da hörte ich meinen Vater die Legende von den Totenrufern erzählen, gab es so etwas tatsächlich?
    LI CHANGGENG:
    Was hat denn Ihr Vater erzählt?
    LIAO YIWU:
    Er sagte, Totenrufer, das sei früher ein Beruf gewesen. Man soll viel Geld dafür bekommen haben, wenn man jemanden, der in der Fremde gestorben war, über Hunderte von Kilometern nach Hause brachte.
    LI CHANGGENG:
    Das stimmt, früher gab es spezielle Totenrufer. In der Regel haben die sich abends aufgemacht, zu zweit, einer vorne, einer hinten, die Leiche wie eine Sänfte zwischen sich. Sie liefen immer in diesem Dreier-Gänsemarsch und riefen dabei: »Hohoho! Hohoho!«
    LIAO YIWU:
    Der Tote ging auch?
    LI CHANGGENG:
    Es sah so aus, ja. Es sah aus wie ein Gleichschritt von Lebenden und Toten, nur so konnten sie einen wippenden Rhythmus halten und die weiten Strecken bewältigen. Wenn man das Pech hatte und solchen Totenrufern im Dunkeln begegnete, blieb einem nichts anderes übrig, als ihnen schnell auszuweichen, sonst rannten sie einen »hohoho« über den Haufen. Dieses Gehen mit sechs Beinen war nämlich nicht nur unnatürlich, man konnte damit auch keine Kurven machen.
    LIAO YIWU:
    Habt Ihr solche Totenrufer mit eigenen Augen gesehen?
    LI CHANGGENG:
    Am helllichten Tage schon, abends nicht. 1949 hatten marodierende Soldaten einen Handelsreisenden, der in der Provinz Jiangxi Geschäfte machte, totgeschlagen. Damals war das Reisen zu Lande und zu Wasser alles andere als bequem, aber sein Freund brachte es nicht übers Herz, ihn an Ort und Stelle zu begraben – also blieb ihm nichts anderes übrig, als für teuer Geld Totenrufer zu engagieren. Nach etwa einer Woche war der Leichnam schließlich zu Hause … und er sah aus, als sei er noch am Leben.
    LIAO YIWU:
    Ohne Anzeichen von Verwesung? Das ist ein Märchen!
    LI CHANGGENG:
    Der Handelsreisende hieß Lu, ich habe ihn eigenhändig aufgebahrt, deshalb weiß ich sehr genau, was ich sage! Die Totenrufer schliefen tagsüber, aber ich war jung und neugierig, ich leckte am Papierfenster und schaute hindurch: Es war stockfinster, lediglich ein donnerndes Schnarchen zu hören. Und abends waren sie bereits spurlos verschwunden.
    Aber der kleine Wu aus unserer Truppe wollte sich einen der Stäbe, die die Totenrufer benutzen, stibitzen und anschauen, denn wie wir alle dachte er, auf diesen Stäben müssten magische Zeichen sein. Doch kaum hatte er den Türriegel bewegt, huschte von innen plötzlich ein schwarzer Schatten heran. Man musste sehr genau hinschauen, um zu erkennen, was das war: eine schwarze Katze! Die Totenrufer hatten immer Katzen bei sich. Wenn sie sich auf den Weg machten, bugsierten sie die an die Wand gelehnte Leiche aus dem Haus, als sei es eine Holztür, einer packte sie vorne, einer hinten, und wenn sie die Katze ein paar Mal über den toten Körper schlüpfen ließen, nannten sie das »das letzte Knistern«. Wenn es sich
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