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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Ehrenwort.»
    «Verzeih mir», flüsterte Elise und legte auf, bevor Chance noch irgendetwas sagen konnte.
     
     
    Es regnete heftig an dem Tag, als Elise beigesetzt wurde, eine Bilderbuchbeerdigung für ein Mädchen, das eine Monatsration Antidepressiva geschluckt und sich dann die Arme vom Handgelenk bis zu den Ellbogen aufgeschnitten hatte, um allein in einer überlaufenden Wanne voller blutkaltem Wasser zu sterben, in einem Stundenmotel, das Zimmer an Huren und Crackdealer vermietete. Elise hatte für die ganze Nacht bezahlt.
    «Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst», sagte ihr Großvater, seine Hand auf ihrer Schulter. Die Geste konnte keinen Trost spenden, das wussten sie beide. Dann gab er Chance seinen großen fledermausschwarzen Schirm und ging hinter den anderen zurück zu den Autos. Aber sie durfte nicht trocken bleiben, während Elise in der nassen Erde lag. Sobald ihr Großvater außer Sicht war, ließ Chance den Schirm also fallen. Der Wind trug ihn fort, trieb ihn trudelnd und hüpfend den Hügel hinab, bis er im Windschatten eines riesigen Granitengels liegen blieb. Chance saß bei Elise, während der Spätaprilregen auf den Oak-Hill-Friedhof nadelte, ein gleichmäßiger Sprühregen, der die alten, verwitterten Grabsteine sauber wusch, lehmgelbe Bäche aus der frischen Wunde im Gras spülte, wo die Friedhofsarbeiter soeben das Grab zugeschüttet hatten. Sie hatten den großen grünen Baldachin fortgetragen und den plastikfalschen Kunstrasen. Mindestens einen Monat würde es noch dauern, bis Elise’ Stein geliefert wurde. Also blieb im Augenblick nur dieser unregelmäßige Haufen Erde, die zurückgelassenen grellbunten Blumen darauf ertranken unter dem grauen Himmel, Kränze aus Rosen und Nelken, Styropor und Draht, Schleierkraut und Farn. Die Friedhofsangestellten hatten auch die Klappstühle aus Metall weggeschafft, alle außer dem, auf dem Chance saß. Vielleicht hatten die Männer Angst, sie darum zu bitten, fanden wohl, es wäre besser, später noch einmal wiederzukommen.
    Es gab nichts mehr zu sagen, keinen Frieden, den man mit einer Leiche schließen konnte, die so leblos war wie die Erde auf ihrem Sarg. Zurück blieb nur das hässliche Loch in Chance, und nichts auf der Welt konnte das jemals stopfen. Der Platz, den Elise in der Welt ausgefüllt hatte, war so leer wie im Augenblick vor ihrer Geburt, so leer wie der Moment vor dem Universum. Dies ist also der Preis dafür, dass man nicht an Gott glaubt, dachte Chance.
    «Ist das der Grund, Elise?» Ihre Stimme klang so laut, so mächtig in der regengedämpften Friedhofsstille. «Glauben die Leute an Gott, damit der Abschied nicht so wehtut?» Mehr brachte sie nicht heraus, weil sie schon wieder weinte, der Regen stahl ihr die Tränen, verdünnte das Salz, als ob allein der Sturm den Schmerz verwehen könnte, der sie innerlich zerfetzte. Wenn sie nur hinter Elise in die Erde hätte kriechen können, damit die verdammten Würmer sie alle beide bekamen.
    Doch nach einer Stunde, anderthalb, und weil es früh dunkel wurde, stand sie auf, zitternd, tropfnass, nahm eine Rose vom Grab, sammelte den Schirm wieder ein und ging den totenbestickten Hügel hinunter, wo Joe Matthews im Auto auf sie wartete. Der folgende Tag war Chance’ dreiundzwanzigster Geburtstag.
    «Verzeih mir», sagt Elise, und Chance steht allein vor dem Haus, in dem Deacon wohnt, Quinlan Castle, ein schlechter Scherz oder der Eingang zum schäbigsten Vergnügungspark der Welt; bizarre Mittelalterfassade, die sich eng um die schmutzigen kleinen Wohnungen schlingt. Kakerlaken. Ein ganzer Flügel des Gebäudes auf ewig verflucht, den Obdachlosen preisgegeben, die durch die Fenster im Erdgeschoss eingebrochen sind und den Teppich für ihre giftig qualmenden Feuer herausgerissen haben.
    «Es war nicht deine Schuld», sagt sie, obwohl sie weiß, dass Elise sie nicht hören kann, sagt es trotzdem, während sie die Stufen hochsteigt im muffig dunklen Treppenhaus, und die Tür von Deacons Wohnung im dritten Stock ist ketchuprot. Vielleicht ist sie inzwischen klug genug und macht die Tür nicht auf, sieht nicht nach. Vielleicht schafft sie es heute, sich einfach umzudrehen, und was sie nicht weiß, macht sie wirklich nicht heiß und tut auch Elise nicht wieder weh. Aber da steht die Tür schon offen, obwohl sie sich nicht daran erinnert, dass sie die Hand auf die Klinke gelegt, den Schlüssel im Schloss gedreht hat. Also ist auch heute wieder alles genau so wie all die Male zuvor.
    «Bist
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