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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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es gut.» Es ist sowieso egal, ob das stimmt oder nicht, man erwartet eben, dass sie es sagt, es ist das, was Tante Josie hören will, damit Chance auflegen darf.
    Aber erst noch mehr Fragen: «Hast du etwas gegessen? Hast du schon Abendbrot gegessen, Chance?»
    Sie versucht, sich daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal gegessen hat. Ihr Magen knurrt eine Antwort, so laut, dass sie befürchtet, Tante Josie könnte es gehört haben, also sagt sie schnell: «Ich schiebe mir gleich eine Pizza in den Ofen.» Chance hört wieder die tonlose Missbilligung, das war wohl die falsche Antwort.
    Aber Tante Josie sagt nur: «Pass auf dich auf. Du musst essen. Walter und ich sind da, wenn du uns brauchst, das weißt du ja. Du rufst uns doch an, wenn du etwas brauchst, Chance?»
    «Ja, aber mir geht es wirklich gut.» Es folgen noch ein paar Sekunden unvermeidlicher und aufrichtiger Besorgnis. Ja, ich verspreche, dass ich anrufe, wenn ich irgendetwas brauche, und: Du weißt, wo du uns erreichen kannst, du weißt, dass wir dich lieben, und dann legt Chance auf, legt den Hörer zurück auf die Gabel, und ihr Magen knurrt wieder.
    Neben dem Sofa befindet sich eine Lampe. Sie knipst sie an, blinzelt in die 40-Watt-Helligkeit, die den stoffbezogenen Schirm durchdringt, und der Kopf tut nur noch mehr weh. Es ist ein kleiner Lichtkegel im Flurdunkel. Chance schaut hinüber zur alten Standuhr, Viertel vor zehn. Also ist es noch nicht lange dunkel, aber sie hat den ganzen verdammten Tag gegen die Eingangstür gelehnt verschlafen, hat ihren Rausch ausgeschlafen, hat die Erschöpfung weggeschlafen. Dabei ist es ein Wunder, dass es ihr nicht viel schlechter geht, als es das tatsächlich tut. Wieder ein Magenknurren, trotzdem ist Aspirin noch dringender als Essen, Zähneputzen ist dringender als Essen, Colgate-Zahnpasta und Listerine-Mundwasser, um den säuerlich-süßen Bourbongeschmack loszuwerden. Vielleicht geht Essen hinterher. Eins nach dem anderen.
    Eine halbe Stunde später sitzt Chance im Schneidersitz auf dem Fußboden im Arbeitszimmer. Ihrem Kopf geht es etwas besser, nur Stühlen und Tischen ist sie noch nicht gewachsen. Sie hat eine der Tiffany-Leselampen hinten an der Wand angemacht, staubiggelbes Licht fließt unter den bunten Glasästen hervor, eine Buntglas-Glyzinie, die in leuchtenden violetten Büscheln herunterhängt. Die Regale ragen um Chance herum auf wie die buchgesäumten Mauern einer Festung. Hier drinnen ist sie sicher, sicher vor der Welt, bewacht von Büchern und all den Geheimnissen darin, all den Dingen, die kaum jemand anders mühsam lernen wollte.
    Chance nimmt einen Bissen von ihrem Cheddar-Senf-Tomaten-Sandwich, kaut langsam, starrt dabei die Lampe an, die Bücher, all die Dinge, die nun ihr gehören. Ihr Arbeitszimmer, weil ihre Großeltern tot sind. So stand es im Testament. Ihre zweitausend Quadratmeter am Red Mountain. «So wirst du immer ein Dach über dem Kopf haben», hat ihr Großvater geschrieben, zu Lebzeiten aufs Papier gebrachte Worte, die ihr jetzt ein Toter schickt. Chance nimmt einen Schluck Rootbeer, die Dose schwitzglatt beschlagen, Maissirup und Sassafras, um den strengen Geschmack von Cheddar und Senf fortzuspülen.
    Noch ein Bissen vom Sandwich. Ich bin wieder eine Waise, denkt sie, falls man überhaupt eine Waise sein kann mit dreiundzwanzig. Vielleicht ist man in dem Alter sogar etwas Schlimmeres. Etwas, wofür es keine spezifische Bezeichnung gibt und deshalb auch keine spezifische Lösung. Sie sieht hinauf zu der hohen Vitrine mit den schattenartigen Gegenständen darin. Bei dieser spärlichen Beleuchtung könnte sie niemals erkennen, was das alles sein soll, hätte sie nicht so viel Zeit ihres Lebens damit verbracht, sich in diesem Zimmer zu verstecken. Die gestaltlosen Umrisse sind eigentlich mit Diamant geschnittene und handpolierte Stücke ordovizischer Algen, devonischer Korallen, paläozoischer Schätze, gefunden auf ebendiesem Berg hier oder aus Steinbrüchen und Straßenanschnitten in Georgia und Tennessee. Gemmen entschwundener und uralter Meere, die sie dank Joe und Esther Matthews so deutlich zu lesen vermag wie die Bücher in den Regalen. Die beiden haben ihr beigebracht, welche Bedeutung diese Funde haben, in denen der Rest der Welt meist nur einen Stein sieht – möglicherweise sogar einen hübschen oder ungewöhnlichen Stein, falls sich jemand die Mühe machen würde, genau hinzusehen, aber eben doch nur einen Stein. Die Vitrine ist verschlossen, und Chance
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