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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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öffnet die Augen und versucht, sich daran zu erinnern, dass sie sie geschlossen hat. Sie ist allein und liegt auf dem Boden des Tunnels, liegt in Schmutz und Wasser, und Deacons fortgeworfene Taschenlampe ist nicht weit entfernt, nah genug, dass sie die Hand ausstrecken und sie berühren kann. Sie leuchtet nicht mehr richtig hell, die Batterien sind langsam alle, und wenn das Licht erst einmal aus ist, gibt es nur noch diese Nacht im Berg, die keinen Morgen kennt.
    «Deacon?», ruft Chance, und ihre Stimme schallt und hallt von den Tunnelwänden wider, aber es antwortet sowieso niemand. Nur das langsame, gleichmäßige Tropfen des Wassers. Sie steht auf, ihr schwindelt, deshalb lehnt sie sich gegen eines der Rohre. Bei der niedrigen Decke muss sie aufpassen, damit sie sich nicht den Kopf stößt, gerade eins neunzig hoch, kaum Platz, um aufrecht zu stehen; Chance hebt die Taschenlampe auf, etwas Leuchtendes zum Festhalten im Dunkeln, gegen die Orientierungslosigkeit, ihren von zu viel Marihuana benebelten Kopf und die Kälte. Sie richtet die Taschenlampe auf die Tunnelwand, starrt den Fels mit zusammengekniffenen Augen an. Es ist Sandstein, der aussieht wie eine überreife Pflaume, der das Violett eines Blutergusses hat.
    Eisenhaltiger Sandstein, denkt sie, ganz nüchterne, verlässliche Geologenüberlegungen, die die verblödenden Nebelschwaden hinter ihren Augen durchdringen. Eisenhaltiger Sandstein, also muss sie mindestens achtzig Meter oder tiefer im Berg sein, vorbei am Kalkstein, hinter dem Ordovizium und im tiefsten Silur zwischen dicken Eisenerzadern. Sie sieht sich die verwinkelt aufeinanderstehenden Felsen an, die sanften Schrägen der Meeresböden, die sich hier vor Hunderten Millionen Jahren hoben und senkten, der Zusammenprall von Kontinenten, aus denen Berge wurden. «Es ist kalt», sagt Deacon wieder und bewundert ehrfürchtig das Rohr unter seiner Hand.
    «Ja, mir auch», sagt Elise.
    Plötzlich ein Geräusch hinter Chance, ein Geräusch von etwas Feuchtem und Schwerem, etwas Großem und Weichem, das sich durch den Tunnel schiebt, das Geräusch von Wasser, das in einem Strudel abläuft wie in einer Spüle, ein sattes, arhythmisches Geräusch. Sie dreht sich um, leuchtet mit der Taschenlampe in die Richtung, aus der sie es vermutet. Aber da ist nur Elise, die ein paar Meter entfernt steht und mit zusammengekniffenen Augen ins Licht blinzelt. Sie ist nackt, auf der Haut nur Dreck und Tunnelmatsch, die kalte Luft, und Tränen laufen ihr über das dreckige Gesicht. Die mandeläugige Elise, und vielleicht ist Chance nie vorher aufgefallen, wie schön sie ist, selbst jetzt, verängstigt und schmutzig, oder gerade jetzt, ihr vollkommener Mund, die schmalen Schultern, und sie hält eine Hand hoch, als ob das Licht in ihren Augen schmerzt oder weil Chance nichts sehen soll.
    «Er hat gesagt, ich soll nicht hinsehen, Chance», schluchzt sie. «Er hat gesagt, ich soll es nicht ansehen, aber ich musste hinsehen.»
    Und dann flackert die Taschenlampe auf und geht aus, und die Dunkelheit umspült sie wie eine Flutwelle, schwärzer als Schwarz, die grausame Schwärze des Meeresgrundes, die sie umschlingt, und Elise schreit. Nein, denkt Chance, tu das nicht. Tu das nicht, weil du dann schluckst und es in dich eindringt. Oder sie versucht zu sprechen, kann sich aber nicht erinnern, wie man Wörter formt, wie man Zunge und Zähne zusammenarbeiten lässt, um Töne hervorzubringen.
    Etwas schiebt sich an ihr vorüber im Dunkeln. Es ist kalt, denkt sie. Ja, es ist kalt, kalt wie ein Himmel ohne Sterne, wie ein Grab, und dann flackert die Taschenlampe schwach zu neuem Leben auf. Aber Elise ist wieder verschwunden, und nur die Rohre sind noch da, die tiefer in den Tunnel führen, tiefer in das durchstochene, verbitterte Herz des Berges.
     
     
    «Hast du das gehört?»
    Elise steht plötzlich wieder da, lacht, weiß, dass Deacon nur versucht, ihr Angst zu machen, aber vielleicht hat Chance es ebenfalls gehört. «Nein», sagt er und leuchtet die Rohre entlang.
    «Hört mal.»
    Chance öffnet ihre Augen und starrt in den Nachthimmel, der nur Dunkelheit ist, in den Frühlingsregen, der durch die Bäume flüstert, ihre Tränen fortspült. Irgendwo in der Nähe, unzusammenhängend, hört sie Elise weinen, und Deacon tröstet sie.
    «‹… wie viele Meilen bin ich diesmal gefallen?›», aber niemand hört sie, also antwortet auch niemand, und das Mädchen namens Chance schließt ihre Augen wieder, lässt den Regen ihre
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