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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Wangen küssen und die Dinge verbergen, die sie nie gesehen hat.

 
     
     
    ERSTER TEIL
     
     
     
    KARTEN UND LEGENDEN
     
     
     
    «In unseren Träumen treffen wir Nacht für Nacht noch auf die zeitlosen Gefahren, Schlünde, geheimen Helfer und Lehrer, und in ihrer Gestalt können wir nicht nur die Spiegelung unserer gegenwärtigen Gesamtverfassung entdecken, sondern auch die Schlüssel zu dem, was zu unserer Rettung zu tun ist.»
     
    Joseph Campbell (1949)

KAPITEL 1
    CHANCE
     
     
     
    Es ist der Morgen nach der Beerdigung, die letzte Beerdigung in einer, wie es Chance Matthews vorkommt, nicht enden wollenden Parade von Särgen und Kränzen und stirnrunzelnden Beerdigungsunternehmern, mit der es ewig so weitergehen könnte, wenn noch jemand da wäre, der ihr etwas bedeutete, jemand, der noch sterben könnte. Die ganze Nacht lang ist sie durch die schmalen Straßen im Norden vor der Stadt gefahren, ländlichdunkle Straßen, nur sie und eine Halbliterflasche Wild Turkey, während die Musik laut aus ihrem Tapedeck plärrte. So jagte sie hinter den Lichtern ihres alten Impala her, versuchte zu fliehen, obwohl sie wusste, dass sie unmöglich schnell genug weit genug kommen würde. Die Schwerkraft kann nicht stärker sein als der Sog ihres Verlusts. Chance sitzt auf der Motorhaube ihres Wagens, während die Sommersonne durch die Bäume auf die Red Mountains blutet und heiß durch die Hornstrauch- und Zürgelbaumäste sickert. Bald wird sie die wie Pailletten glitzernden Tautropfen im Vorgarten von Chance’ Großvater verdampfen. Der Impala pufft und knackt in seiner geheimen Autoauspuffsprache, während er nach der langen, ruhelosen Nacht herunterkühlt.
    Chance blinzelt in die aufgehende Sonne, wünscht, sie könnte sie zurück nach unten drängen, sie für immer in den Osten jagen und sich an die Nacht klammern. Doch aus Rausch und Nacht werden langsam Kater und Schatten. Vielleicht spendet die Nacht keinen Trost, aber zumindest wird man nicht grausam daran erinnert, dass die Welt nicht aufgehört hat, sich zu drehen, und dass sie’s auch nicht tun wird, ganz egal, wie weh es tut.
    «Was zum Teufel jetzt noch, Grandpa?», flüstert Chance, und ihre Stimme klingt falsch, unpassend. Es ist unanständig, am Leben zu sein und zu atmen, zu reden. Aber sie fragt trotzdem noch einmal, diesmal lauter: «Was zum Teufel jetzt noch?»
    Keine Antwort außer den Vögeln und dem Verkehr auf der Sixteenth Avenue, den Aufwachgeräuschen, den Leute-am-Morgen-Geräuschen, als ob sich absolut nichts geändert hätte, abgesehen vom Wochentag, den Zahlen auf dem Kalender. Chance schließt die Augen, so bleiben wenigstens nur die Geräusche und das bisschen Helligkeit, das durch die Lider schimmert. Vielleicht ist das ja der Trick, denkt sie. Eine Nacht zu erschaffen, eine Nacht, in der man sich verstecken kann, eine Nacht, die nicht enden muss, bevor diese Leere tief drinnen verschwunden ist und man den Gedanken an einen neuen Sonnenaufgang ertragen kann, den Gedanken an Alltag.
    So sitzt Chance auf der Motorhaube, die grünen Augen geschlossen, fühlt die unwillkommene Julisonne auf dem Gesicht, die schwächere Hitze vom Motor des Impala durch ihre Jeans und überlegt, wie man eine Nacht weben könnte, wie man indigofarbene Himmel näht, ohne Sterne oder Mond, außer Chance sehnt sich ausnahmsweise nach ihnen und schneidet Löcher in den Stoff, damit sie hindurchscheinen können; obsidianfarbener Himmel sogar, wenn es sein muss. Eine Nacht, die sie umhüllt, als Gegenstück zu jener Nacht, die zusammengerollt unter ihrer Haut liegt und sie bei lebendigem Leibe auffrisst.
    Hör mit dem Selbstmitleid auf, Chance. Die Stimme ihres Großvaters, irgendwo hinter ihr, eine Geisterstimme vom Beifahrersitz des Impala. Chance krabbelt von der Motorhaube, alle Gedanken an Zufluchten und Nachtgewebe sind verflogen in diesem einen Augenblick unmöglicher Überraschung. Doch nichts und niemand steht beim Auto außer ihr. Sie fühlt sich dumm, schämt sich, ist wütend, alles gleichzeitig. Diese gewöhnlichen Gefühle schwimmen gegen den Strom ihrer Trauer, silbrig glänzendes Treibgut, das Chance’ Aufmerksamkeit einen Moment ablenkt, bevor es fortdriftet und wieder nichts als Traurigkeit bleibt. Also nicht ihr Großvater, nur ihre eigene Erinnerung an die Stimme ihres Großvaters. Nur der Teil von ihr, der krank ist vor Verlust, Tod und den Schuldgefühlen und in einer Stimme spricht, der sie vielleicht zuhört, vielleicht. Chance beugt
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