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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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saß betrunken im Wohnzimmer, trank ein Glas Jack Daniel’s nach dem anderen, als wär’s Wasser, Wasser, abgefüllt für ihn, damit er vergessen konnte. Chance versteckte sich in der Bibliothek und hörte, wie die Frauen taten, als wären sie in der Küche schwer beschäftigt.
    «Das hilft auch nicht, Joe», sagte Großonkel William im Wohnzimmer. «Dir wird nur schlecht davon, mehr nicht. Du musst essen. Komm, ich sage Patsy, dass sie dir einen Kaffee und einen Happen bringen soll.»
    Chance hätte ihren Großvater gern in Schutz genommen, konnte sich aber nicht dazu überwinden, die Bibliothek zu verlassen, diese staubigsichere Zuflucht voller Regale und Glasvitrinen und dem muffigen Geruch von all den Büchern. Die Tür hatte sie von innen verschlossen gegen vogelflattrige Tanten, die dachten, das ein oder andere Scheibchen Schinken und ein Löffel Kartoffelpüree würden vielleicht alles wieder ins Lot bringen. Chance saß an dem großen Tisch aus Walnusswurzelholz, an dem ihre Großeltern immer ihre topografischen und geologischen Karten studiert hatten und die stratigrafischen Angaben. Große, unbearbeitete Stücke pudrigweißen Sylacauga-Marmors auf jeder Ecke beschwerten das Papier der ausgerollten Karten. Der Boden der Steine war mit grünem Filz beklebt, damit sie das Holz nicht zerkratzten. Dieser Tisch war ein Ort, um Orientierungspunkte zu finden, ein Platz für Winkelmesser und Rechenschieber, zum Nicht-verloren-Gehen – und hier entdeckte sie das Buch: Handwörterbuch der Naturwissenschaften, erschienen 1933. Chance’ Augen wanderten blicklos eine vergilbte Seite hinab. Detailgetreue Stiche von Trilobiten, die waren schon immer ihr Lieblingsfossil gewesen und das Spezialgebiet ihrer Großmutter. Überall im Haus lagerten Hunderte oder Tausende der versteinerten Gliederfüßler in Schränken und Schubladen verpackt, die meisten kleiner als ein Daumennagel, aber auch einige Riesen, über dreißig Zentimeter lang. Also nichts Ungewöhnliches an dieser Buchseite, Deutsch und Latein, Devon-Trilobiten der Unterfamilie Miraspidinae, Zeichnungen von Fossilien aus Afrika und Oklahoma. Doch ganz unten auf der Seite bemerkte Chance ein Wort, das sie vor drei Tagen hinten in Löwenzahnwein gekritzelt hatte, Dicranurus, und um vier der Zeichnungen war mit inzwischen verblasstem rotem Buntstift ein Kreis gezogen, vier Darstellungen des Trilobiten und ein roter Kreis darum, wie ein Feenzauber, der die vier Bilder in seine Mitte bannte. Dicranurus monstrosus, das Exemplar aus Oulmes, Marokko, wie ein auf der Seite zusammengerolltes kleines Ungeheuer, die Stacheln so lang, dass es Tentakel hätten sein können, mit Zwillingsantennen, die wie Widderhörner aus dem Kopf spiralten. Ein kalter Schauer überlief sie wie ein kühler Windhauch. Ihr Finger fuhr vorsichtig über die rote Linie, noch eine halbe Sekunde, und Chance hätte das Bild der Kreatur selbst berührt, aber da hämmerte jemand gegen die Tür.
    «Chance? Bist du da drin, Süße? Chance? Komm raus und iss etwas.»
    Sie schloss das Buch, schlug es zu und räumte es weg, kannte seit langer Zeit den richtigen Platz für jedes Buch in der Bibliothek, und so war es nicht schwer, die Lücke zu finden, in die es hineingehörte.
    «Ich komme», rief sie der Stimme hinter der Tür zu, «bin gleich draußen», und nahm sich vor, das Buch später noch einmal anzusehen und ihren Großvater nach dem im roten Kreis gefangenen hässlichen Trilobiten zu fragen. Aber nach einer Weile hatte sie es dann vergessen, auch den Traum vergessen, von einem Nachthimmel, aus dem dampfende, ölklebrige Tränen leckten.
     
     
    Es war drei Monate vor dem Herzanfall ihres Großvaters gewesen. Der Frühling röchelte zum letzten Mal unter der sengend heißen Hacke des Sommers. An dem Tag, als sie mit Deacon Schluss machte, wütete ein Tornado. Schwarze, wirbelnde Wolken hingen von Arkansas bis hinunter nach Georgia tief vom Himmel herab, und Warnsirenen schrillten los wie beim Jüngsten Gericht. Sie hat es ihm vor der dreckigen kleinen Bar gesagt, wo er so oft hinging. Da, wo er immer saß und sich blöd und bewusstlos trank, damit er der Welt nicht ins Auge sehen musste. Sie hatte Wochen gebraucht, um den Mut dazu aufzubringen, um sich die vorsichtigen, wohlgepolsterten Worte zurechtzulegen, um etwas zu beenden, das schon vorbei war. Deacon hörte zu, und als sie fertig war, zuckte er die knochigen Schultern, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah hinauf in den wütenden
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