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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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sich am Dach und an den Fenstern zerschellen ließen. Sie hörte ihren Großeltern zu, die länger wach waren als gewöhnlich und sich stritten. Wütende, bittere Worte sagten sie einander, warfen sie sich an den Kopf wie Porzellantassen und -teller. Chance hatte es kommen sehen, wie die dunklen Sturmwolken, die sich ambosshoch am westlichen Horizont auftürmten, kurz bevor es dunkel wurde. Es war immer entsetzlich heiß in ihrem Dachzimmer im August, und sie hatte dort oben nur einen elektrischen Tischventilator. In jener Nacht machte Chance sich nicht die Mühe, das Bett aufzudecken, versuchte, noch etwa eine Stunde zu lesen. Aber das Gewitter, die Stimmen der beiden und der Schweiß, der von Chance’ Gesicht tropfte und Flecken aufs Papier machte, lenkten zu sehr ab. Schließlich hatte sie aufgegeben; die antiquarische Ausgabe von Löwenzahnwein lag nun, beim fünften Kapitel aufgeschlagen, auf dem Boden, während Chance herauszuhören versuchte, worüber ihre Großeltern stritten.
    «… ich bin immerhin nicht diejenige, die hier behauptet, es wäre nie passiert, oder?»
    «Ich begreife nicht, was du von mir willst, Esther.»
    «Hör einfach auf, mich zu behandeln, als wäre ich verrückt, damit du nicht länger darüber nachdenken musst.»
    Dann knallte irgendwo im Haus sehr laut eine Tür, vor dem letzten Wort, dem wirklich letzten Wort, und vielleicht hat Chance das nicht einmal gehört, oder sie hat sich verhört; es war zu leise, hausgedämpft, ihre Großmutter schluchzte, und einer von ihnen (Chance ist nicht sicher, wer) sagte: «Dicranurus», ein lateinisches oder griechisches Wort, das sie nicht kannte, es wurde unten ständig wiederholt wie eine Litanei oder Anrufung. Nicht ungewöhnlich, hier im Haus Latein zu hören; ihr Großvater unterrichtete noch immer Geologie an der Universität, ihre Großmutter war eine emeritierte Paläontologin, so war das Wort nur unter diesen Umständen seltsam, nur im Zusammenhang, als Chance es in jener Nacht hörte. Auf dem Schreibtisch fand sie einen Bleistift, gelb lackiert, mit weicher Mine und Radiergummikopf, und kritzelte das Wort wie gehört innen auf den hinteren Buchdeckel von Löwenzahnwein, bevor sie den Band wieder auf den Boden legte.
    Dann schlief sie ein und träumte, dass Donner mehr wäre als einfach nur ein Geräusch, etwas Dunkles, Brütendes nämlich, weit droben über der Welt, und der Regen fiel in zischenden, ätzenden Streifen daraus herab, hatte die Farbe von altem Motoröl, schmieriger Regen, der bald auf dem Gras und den Bäumen verdampfen würde, in Regenrinnen und Schlammlöchern gerinnen. Die lauten Schreie ihres Großvaters drangen erst nur leise in ihr Bewusstsein vor, eine Altmännerstimme, eingeflochten in grauschwarzen Regen, das Ding droben im Himmel wand sich ohrenbetäubend hin und her. Chance sollte sich nicht daran erinnern, wie sie aufwachte, kam sirupzäh zu sich und stand dann in Unterwäsche und einem vornehmlich weißen Smashing-Pumpkins-Shirt auf der Veranda hinterm Haus. Dieser Regen war kälter und schwärzer als der in ihrem Traum. Ihr Großvater klammerte sich an die Leiter, war halb oben und kämpfte verzweifelt mit etwas, das von einem Ast der großen Eiche hing.
    «Grandpa!», rief Chance, schrie, damit er sie trotz des Krachens und Heulens des Gewitters hörte.
    «Hilf mir, Chance!» Ihr Großvater wandte den Blick nicht ab von dem schlaffen Ding am Baum. «Verdammt, hilf mir, sie runterzuholen.» Und da erkannte Chance es, nur ihr Verstand war noch nicht bereit zu glauben, was sie sah, doch das änderte nichts daran. Das Ding im Baum bewegte sich, schwang im Sturm hin und her oder vielleicht, weil ihr Großvater das Seil mit einem Küchenmesser durchsäbelte. Chance ging auf die Leiter zu, die nackten Füße im Matsch und nassen Gras, ein Teil von ihr, noch immer gefangen in ihrem Albtraum, wollte nicht, dass der ölige Regen sie berührte, wollte nicht hinaufsehen. Das Seil riss mit einem Knall wie ein Feuerwerkskörper, und der Körper ihrer Großmutter fiel leblos zu Boden.
     
     
    Ein paar Stunden nach der Beerdigung füllte sich das Haus mit Tanten und Onkeln und Cousins und Cousinen, lauter Leuten, die Chance nicht richtig kannte und nicht sehen wollte. Wenigstens waren diesmal keine Pastoren dabei, aber alle brachten Essen, als ob der Tod der eigenen Großmutter den Appetit anregte, verdammt. Das ganze Haus stank nach Aufläufen und Schinken und dicken Bohnen, Apple Pie und Schokoladenkuchen. Joe Matthews
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