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Flucht in die Hoffnung

Flucht in die Hoffnung

Titel: Flucht in die Hoffnung
Autoren: Tina Rothkamm
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keine Spur Mitgefühl für
die Menschen anzumerken war, die aus den Hochhäusern gesprungen waren; wie
Puppen in der Luft sahen sie aus. Es schien ihn beinahe mit Genugtuung zu
erfüllen, dass so etwas Unvorstellbares in Amerika passiert war. Oder irrte ich
mich da?
    Sein Verhalten verunsicherte mich. Er begriff die Tragweite des
Geschehens nicht, vermutete ich. Oder aber er begriff sie viel besser als ich
und wollte mir das nicht zeigen, um mich nicht zu beunruhigen. Um mich zu
schützen. Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm und tröstete ihn: »Das
schaffen wir schon.« Vielleicht tröstete ich auch mich
selbst.
    »Können wir einen Film kucken?«, entgegnete
Farid nur.
    Zwei Tage später nahm mich meine Oma beiseite.
    »Was willst du jetzt denn machen, Tina?«
    »Ich kann mir vorstellen«, sagte ich bekümmert, »dass die Lage für
die arabische Bevölkerung und all ihre Belange schwierig wird. Ich vermute, weltweit
wird das Zusammenleben mit Muslimen auf den Prüfstand gestellt.«
    Tief seufzte meine Oma. Sie war schon 85 und hatte in ihrem langen
Leben schwere Zeiten voller Entbehrungen gemeistert. »So was hätte ich mir
nicht träumen lassen!« Immer wieder schüttelte sie den
Kopf und ließ scheinbar zusammenhanglos Wörter fallen wie: »Die Flugzeuge! Die
Menschen! Die Türme!« Meine Oma dachte ständig an die Opfer. Farid schien das
zu nerven. Wenn ich über Konsequenzen des Anschlags für unsere Situation
spekulierte, verspottete er mich. Ich würde Gespenster sehen.
    Meine Oma hörte sich alle meine Bedenken an, hin und wieder
streichelte sie mir über das Gesicht.
    »Ich rechne damit, dass unser Privatleben leiden wird. Vor allem in
Deutschland wird unser Stand schwieriger werden«, fasste ich meine Sorgen zusammen.
    Meine Oma wäre jedoch nicht meine Oma, wenn sie mir keinen Mut
zugesprochen hätte. 1916 geboren, hatte sie zwei Kriege erlebt und wusste, dass
schlechte Zeiten ebenso wie die guten immer nur eine vorübergehende Phase sind.
Mit beiden muss man umzugehen lernen. Sich in den guten Zeiten ein Polster
zulegen und in den schlechten Zeiten davon zehren, statt zu verzweifeln.
    »Mach dir keinen Kopp, Tina. Wahrscheinlich wird das alles lang
nicht so schlimm, wie es aussieht. So ist es doch oft. Ihr geht jetzt erst mal
nach Belgien zurück, dort lebt doch auch ein kunterbuntes Völkergemisch, da
sind die Leute dran gewöhnt. Das wird schon. Vergiss nie: Keine Suppe wird so
heiß gegessen, wie sie gekocht wird.«
    Nachdenklich nickte ich, vielleicht hatte sie ja recht. »In Belgien
leben viele Muslime.«
    »Na siehst du! Da freut sich der Farid doch. Da ist er nicht allein,
und wenn er mal Heimweh hat, findet er schnell einen, mit dem er sich
austauschen kann.«
    Im November 2001 hatte ich plötzlich ein seltsames Gefühl. Ich
liebte Farid über alles und wollte gern eine Familie mit ihm gründen. Aber
nicht in Belgien. Der Zeitpunkt war der falsche für eine Schwangerschaft. Wir
standen doch gerade erst am Anfang. Unsere Existenz war noch nicht gesichert,
und in Brüssel gefiel es uns nicht. Zu viel Stadt. Zu wenig Grün für ein Kind.
     Als ich Farid von meinem
Verdacht erzählte, wollte er sofort Gewissheit.
    »Lass uns das abklären.« Seiner Miene
konnte ich nicht entnehmen, ob er sich freute. Farid war Arzt. Er wollte
Fakten, sprich: einen Ultraschallbeweis.
    Drei Stunden später hielt ich eines der typischen Fotos in der Hand.
Auf dem Ausdruck des Ultraschallgeräts war fast alles schwarz, es gab eine Art
Dreieck und ein paar weiße Stellen, und eine davon hatte den Arzt zu einem
»Herzlichen Glückwunsch!« veranlasst.
    Ob er das zu allen sagte oder nur zu solchen, bei denen er sicher
war, sie freuten sich? Farid prüfte das Foto mit einem Röntgenblick. Er musste
mir zeigen, dass er hier den Durchblick hatte.
    »Welche Augenfarbe hat es denn?«, lachte
ich.
    Farid sah mich verschmitzt an. Alles wird gut, dachte ich.
    Wir strapazierten unseren Etat unverantwortlich und feierten beim
Italiener, wo wir uns nicht nur eine doppelt dicke Pizza gönnten, sondern
zusätzlich einen Nachtisch.
    Obwohl ich mich so sehr freute und auch Farid sich offenbar mit dem
Gedanken anfreundete, Vater zu werden, war der Beginn meiner Schwangerschaft
keine unbeschwerte Zeit für mich, denn oft dachte ich an meine beiden Söhne,
die Geschwisterchen des Kindes, das in mir wuchs. Warum nur hatte ich nicht die
Kraft, mehr um sie zu kämpfen, überlegte ich traurig und hielt fest an dem
Funken Hoffnung, dass wir
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