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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition)
Autoren: Angelika Overath
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Prägung, die mir selbstverständlich schien, da sie die Wörter »Kaiser« und »Zehe« sinnvoll verband. Mein Vater schüttelte den Kopf, meine Mutter wandte sich beschämt ab. Dabei hatte ich ein schönes Bild gemalt. Ein Bild mit einem Vater, der die Hände hochwirft und sich freut. Meinem Vater blieb meine nachgetragene Liebe, nicht nur in diesem Bild, peinlich. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht behaupten, darüber wirklich enttäuscht gewesen zu sein. Solche Bilder, solche Gesten waren meine Sonntagsspaziergänge auf Bürgersteigen; auch ich hatte das Recht zu zelebrieren, ohne zu glauben.
    Mein Vater hatte sich einen Sohn gewünscht. Und nun war ein pummeliges Mädchen da, mit ständig rutschenden Kniestrümpfen oder verdrehten Strumpfhosen. Wer wollte ihm da einen Vorwurf machen?
    Wenn wir am Sonntag auf dem Friedhof gewesen waren und das Wetter gut blieb, fuhren wir mit der Straßenbahn ins Stadion. Es lag in der Nähe eines Waldes und hieß deshalb »Wildparkstadion«. Am Sonntag war im Stadion nichts mehr los, aber der Vater genoß doch, quasi im Nachhinein, noch die wirkliche Atmosphäre. Es gibt eine Photographie von mir, wie ich an der Treppe eines der Stadioneingänge stehe und in die Kamera lache. Ich lache tapfer, als wollte ich wenigstens auf der Photographie eine schöne Erinnerung an Vaters Fußballglück einholen, die ich freilich in keiner Zukunft würde einlösen können. Was will man machen als Mädchen, wenn nicht gute Miene zum vergeblichen Spiel? Einen Sohn hätte er trainiert. Ein Sohn wäre an seiner Stelle stark gewesen. Eine Tochter aber war die Verlängerung der mütterlichen Macht. (Auch das wußte ich sehr früh. Und er wußte, daß ich es wußte.)
    Mein Vater war arbeitslos. Natürlich war mein Vater nicht immer arbeitslos, aber gerade wenn er nicht arbeitslos war, also meistens, bedrohte uns seine mögliche Arbeitslosigkeit. Deshalb hatten wir nie Geld, obwohl wir Geld hatten.
    Mein Vater, der mit einer versteiften Hüfte hinkte, kaufte sich bei wichtigen Spielen manchmal eine der billigen Stehplatzkarten im Wildparkstadion des KSC . Wenn es regnete, stand er dann im Regen; wenn es heiß war, in der Hitze. Die billigen Plätze hatten keine Überdachung. Diese Karten waren das Thema unendlicher, quälender Auseinandersetzungen. Die Großmutter saß in der Küche und schwieg, die Mutter lamentierte durch die Wohnung. Der Vater versank im Finale des ehelichen Kräfteringens über seinem Schachbrett. Und er setzte den schwarzen König matt.
    Manchmal ging er heimlich zu einem Spiel ins Stadion, er behauptete dann, er sei im Schloßpark, Schachspielen, mit den großen Holzfiguren. Aber da seine Frau das Geld verwaltete, mußte mein Vater einiges Geschick aufwenden, um die Karte aus Schwarzgeldern der Haushaltskasse irgendwie zu finanzieren. Und dazu hatte er meist zu wenig Energie.
    Vor dem Radio zu schreien war leichter. Hier konnte er sich austoben, ohne ehebrüchig zu werden. Das orgiastische orale Tor unterlag keiner Sanktionierung, dafür mußte man sich nicht schämen. Dieser Schuß lag jenseits aller Heimlichkeiten. Im Fichtennadelbadeschaum verstand das Kind, ohne zu verstehen. Im besten Fall (und davon wollen wir doch ausgehen) war das seine erste Begegnung mit männlicher Leidenschaft. Sie passte zur Anarchie der Samstage, sie war der Beginn des Sonntags. Sie war herb und ungeheuer.

Gebäck
    Als Kind habe ich Weihachten gefürchtet. Nie war Mutter bereiter zur Perfektion. Die winterlich frisch gewaschenen Spannstores, Vorhänge und Übervorhänge, die Gans, der Baum. Jedes Jahr nahm es Mutter auf mit dem Wort Herrlichkeit in den Verhältnissen des sozialen Wohnungsbaus. Als könne sie damit alles retten, buk sie Plätzchen. In den Wochen des Advents füllten sich Dosen und Schachteln mit Hildabrötchen, Bärenpratzen, Zimtsternen, Vanillekipfeln, Kokosmakronen. Meine Mutter arbeitete zügig, sauber und präzise. Unter allem Kleingebäck anderer Frauen würde ich die Plätzchen meiner Mutter sofort erkannt haben. Sie hatten das, was sie ein Gesicht nannte.
    Am liebsten sah ich zu, wenn sie Ausstecherle machte aus einem Butterteig, der mit Margarine gestreckt wurde. Auf einem leicht mit Mehl bestäubten Backbrett rollte sie die gekühlte Masse behutsam aus und drückte dann die alten Formen hinein. Es waren Formen aus der verlorenen Heimat. Sie achtete darauf, Teig zu sparen, und stach Lilie exakt an Lilie aus, Dreierle an Dreierle. Denn bei jedem neuen Zusammenkneten
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