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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition)
Autoren: Angelika Overath
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Ansonsten war die Tasche gefüllt mit verschiedenen Reiseprospekten, die Kreuzfahrten anboten.
    Als ich das sah, dachte ich, wenn du ihn geliebt hättest, würdest du das für ihn erfunden haben.

Vater und das Fichtennadelschaumbad des KSC
    Samstag war das Gegenteil von Sonntag. Sonntag war kratzende Strumpfhose, im Schritt zu eng, rutschend. Sonntag war Kirche, war Friedhofsbesuch, Spazierengehen auf dem Bürgersteig. Sonntag war disziplinierte Langeweile, ein Einüben von Ehrbarkeit, an die selbst die Eltern nicht glaubten (aus durchaus verschiedenen Gründen).
    Samstag hingegen war Barfußlaufen und blutige Knie, war Spielen in aufgelassenen Gärten, im kalkigen Areal von Baustellen, im Noch-Nicht der proletarischen Stadtrandsiedlung. Samstag war Utopie, bevor sie im schrecklichen Gelingen des Sonntags eingelöst wurde. Auch ein Rindsbraten mit Serviettenknödeln konnte den Sonntag nicht retten. Das Resteessen vom Samstag, mit dem das Sonntagsmahl schon im voraus eingespart wurde, hatte mit sauren Gurken und Senf den besseren Geschmack von Freiheit. Jeder Samstag (und in der Erinnerung sind sie alle sonnenstaubig, warm, voller Maikäfer und Sauerampfer) endete mit dem Samstagabendwannenbad. Samstags durfte man sich schmutzig machen, sonntags war man sauber. Als erstes kam das Kind ins warme Wasser, dann die Großmutter ins schon abgekühlte, dann der Vater ins kalte. Der Vater war im Krieg gewesen; das härtet ab. Nur die Mutter bekam ein Badewasser für sich allein. Ein Wasser also, das weder vor ihr beschmutzt worden war noch nach ihr beschmutzt werden durfte. Und die Temperatur bestimmte sie.
    Der Samstagabend hatte einen besonderen Geruch. Er duftete so, wie wir uns Luxus vorstellten, etwas streng nach Fichtennadelbad. Dieser Geruch kam aus einer großen Plastikflasche am Wannenrand. Das besondere aber, das dem Samstagabend und damit dem ganzen Samstag eine Aura gab, wie der Gottesdienst am Morgen den ganzen Sonntag heiligte, war eine Lautkulisse. Der Samstag hatte einen Samstagabendsound. Er kam aus dem Radio, später aus dem klobigen Schwarz-Weiß-Fernsehgerät mit den zitternden Bildern. Wenn das Kind in der Wanne lag, roch es den Schaum des Fichtennadelbadezusatzes und hörte durch die angelehnte Badezimmertür das allsamstägliche Abendrauschen, ein Tosen, ein Brüllen, ein stöhnendes Anfeuern aus einem nicht störungsfreien Sender. Fraglos war der Samstagabend männlich (wie der Sonntag weiblich war). Und dieser männliche Ton aus der Autorität des Lautkastens wurde lebensecht unterstützt von der Stimme des Vaters, der im Wohnzimmer gebannt davor saß. Dieser Krach hatte etwas Überwältigendes wie der steife, sich auftürmende Schaum, den das Kind durch sein Planschen in der Wanne zu vermehren suchte. Unvermittelt fiel der Vater immer wieder ein in das kernige Sprechen, Hecheln, Brüllen des Reporters. Manchmal bereitete er es vor, ja der Reporter schien umfangen und präludiert von der hellen, aber nicht weniger heftigen Stimme des Vaters, der aufschrie, losschimpfte, antrieb und wegstöhnte.
    Ich hatte keine Ahnung, was Fußball war. Es war ein Spiel um einen Ball mit zwei Toren. Aber offensichtlich war es noch etwas anderes. Ja, es muß das ganz Andere gewesen sein. Es war ein samstägliches Versprechen. Der Sog eines Mysteriums. Ein Rausch. Eine Hoffnung. Heute nehme ich an, daß das Wunder von Bern nicht nur ein legendäres historisches Fußballspiel, Ungarn gegen Deutschland um die Weltmeisterschaft 1954, war, sondern daß das Wunder von Bern in den Jahren der schwachen bundesdeutschen Väter und des erstarkenden deutschen Fußballs immer wieder schmerz- und variantenreich in den väterlichen Seelen beschworen wurde. (Diese Männer hatten gezeugt, aber sie konnten nicht erziehen. Sie glaubten an die Autorität, von der sie gequält worden waren, aber sie hatten keine Aufmerksamkeit.)
    Die Macht meines Vaters, der keine hatte, war der KSC . Daß KSC Karlsruher Sport Club hieß, wußte ich nicht. Ich kannte den Namen nur vom Hören und bereits aus einer Zeit, da ich noch nicht lesen und schreiben konnte. Ich wußte, daß der Name etwas mit einem Fußballstadion zu tun hatte, und einmal, als ich dem Vater eine Freude hatte machen wollen, habe ich den Vater gemalt, wie er im Stadion jubelt. Da ich meiner realistischen Darstellung nicht ganz traute, hielt ich es für angebracht, jenen Namen dazuzuschreiben, den ich mit dem Vater und dem Stadion verband. So erfand ich das Wort »Kaiszeh«, eine
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