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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition)
Autoren: Angelika Overath
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Meine Großmutter öffnete sie behutsam, rutschte dann auf dem Handballen erst langsam und dann in ungeahnter Beschleunigung über das glatte Wachstuch des Küchentisches – und hatte die Fliege gefangen. Sie drückte nie zu. Mit der summenden Handtasche ging sie zum Fenster, wo sie abschüttelnd das Tier freiließ. Es hieß aber, »Zuhaus« habe die Großmutter Hühner geschlachtet. Und die Hühner seien dann manchmal ohne Kopf noch einen Bogen über den sandigen Hof gerannt.
    Es gibt ja auch Einkaufstaschen, Manteltaschen, Jackentaschen. So verschieden sie sind, ihr Inneres ist Asche. Damit ist ihr geheimer Raum nahezu unendlich. Durchs Feuer gegangen würde sehr vieles zur Not selbst in eine kleine Handtasche passen.
    Als mein Vater gestorben war, trug ein Mann, der das sprach, was meine Mutter »gebrochenes Deutsch« genannt hätte, die Urne von der Kapelle über die Friedhofswiese zum offenen Urnengrab meiner Mutter. Sollen die Glocken läuten? hatte er noch gefragt, und ich hatte ja, ein wenig, gesagt. Daraufhin hatte er auf einen Schalter an der Wand gedrückt, und als wir dann die Kapelle verließen, begann eine Glocke zu läuten.
    Es war ein strahlender blauer Frühlingsnachmittag mitten im Winter. Die Glocke läutete. Der Mann ging bedächtig, betont feierlich, und meine Tochter und ich folgten ihm und der Urne. Obwohl ich aus der katholischen Kirche ausgetreten bin und meine Tochter nicht getauft ist (sie nimmt in der Schule am Religionsunterricht teil, hat aber nie davon gesprochen, einer Glaubensgemeinschaft beitreten zu wollen), obwohl wir also die Glocke nur als Heiden hörten, empfanden wir es doch als schön, daß sie läutete. Mein Vater war sehr religiös gewesen. Auf eine traurige Weise sehr religiös, denn obwohl er sehr religiös war, fand er in seinem Glauben weder Trost noch Kraft für sein Leben. Und so war es ungeheuerlich, daß gerade er, der doch ein Mann der Kirche war, sich so ausweglos allein gesehen haben muß, daß er immer wieder versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Vermutlich hat ihn am Ende die Scham das Leben gekostet.
    Der Herr vom Beerdigungsinstitut trug die Urne wirklich sehr feierlich vor sich her. Er hielt sie in zwei Händen, ein wenig von seinem Bauch weggerückt. Ich habe ihn bitten wollen, mir die Urne einmal in die Hand zu geben; ich wollte ihr Gewicht spüren. Ich habe mich aber nicht getraut, ihn zu fragen, habe ihn aber desto genauer beobachtet. So wie er sich mit der Urne bewegte, so wie er am offenen Urnengrab meiner Mutter der Urne meines Vaters den abschließenden letzten Deckel aufsetzte, wie er den Draht anzog, mit dem er die Urne in das Grab neben die erste Urne setzte, so wie es war, kann die Urne nicht sehr schwer gewesen sein. Wieviel Asche bleibt von einem Menschen? Ein Handtaschenmaß wenig genug. Wir sahen also von oben in das offene Urnengrab, meine Tochter und ich. Die beiden Urnen standen in dem kleinen Betonkästchen in der Diagonalen nebeneinander wie zwei Hefeteigbuchteln, die noch aufgehen müssen. Es sieht friedlich aus, sagte ich zu meiner Tochter. Sie sagte nichts. Wir müssen im Augenblick dasselbe gedacht haben: Hier ruht eine furchtbare Ehe. Dann wollte ich gehen. Aber sie blieb seltsam sicher stehen. Ich weiß nicht, was sie sah, was sie weiterdachte.
    Als meine Mutter starb, hinterließ sie 32 Handtaschen, schön nebeneinandergesteckt und aufgestapelt auf dem Boden des Kleiderschranks, in dem oben an der Stange ihre steifgebügelten Blusen hingen. Die Handtaschen, die sie sich über die Jahrzehnte hin gekauft haben muß, sahen alle denkbar ähnlich aus. Sie waren von eher mittlerer Größe wie für den Kirchgang. Nur wenige waren etwas größer, so daß nicht nur ein Gebetbuch und der Geldbeutel, sondern vielleicht auch noch ein kleiner Schirm hineingepaßt hätte. Sie waren unauffällig einfarbig: beige oder eierschalenfarbig, wie meine Mutter gesagt hätte, hellbraun, grau, die eine oder andere auch dunkler. Wenn man sie öffnete, entströmte ihrem Innern der Geruch von abgestandenem Kölnisch Wasser. In jeder der 32 Taschen steckten ein auf Kante gefaltetes Stofftaschentuch und ein runder, manchmal auch viereckiger Taschenspiegel. Davon abgesehen waren alle 32 Taschen leer.
    Mein lebensmüder Vater, der meiner Mutter schnell nachstarb, hat eine schwarze Herrenhandtasche zum Umhängen hinterlassen. Darin fanden sich drei frischgekaufte Stabilo-Bleistifte, ein neuer grüner Radiergummi und ein kleiner, unbeschriebener Spiralblock.
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