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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition)
Autoren: Angelika Overath
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Tod zu sprechen, der Vater aber habe nur noch einmal nachgefragt: Und Sie servieren Borschtsch ohne Schwarzbrot? Als der Oberkellner darauf mit einem irritierten Ja antwortete, faltete der Vater die Serviette zusammen und stand wortlos auf. Daraufhin erhob sich die Restfamilie ebenfalls und verließ im Gefolge des Vaters das Restaurant. Marlene Dietrich soll diesen peinlichen Vorfall nie mehr vergessen haben. Von nun an hatte sie immer Schwarzbrot bei sich. So erfand, schloß meine Tochter, Marlene Dietrich die große Handtasche für den Abend, was die Modewelt als eine neue Exaltiertheit der Diva begeistert aufnahm. In Gesellschaft sagte die Dietrich nun öfter: Wir können ruhig russisch essen gehen, ich habe Papis Brot dabei!
    Vermutlich haben die meisten Frauen in ihrer Handtasche Papis Brot dabei und was eben sonst noch wichtig genug ist, daß man es mit sich trägt. Zum Beispiel: Lippen- und Konturenstift, Zigaretten, Präservative, ein altes Flugticket zu einer großen Stadt am Meer, zwei Parker-Kugelschreiber mit feiner Mine, den Presseausweis, Aspirin plus C, Adreßbuch, Terminkalender, eine Zahnbürste, eine Ersatzunterhose, Schlüssel, Kinderzeichnungen.
    Oder: Busfahrkarte und einen Kurzbusplan, handgeschriebene Telephonnummern in einem immerwährenden Kalender, ein ausgeschnittenes Backrezept für Hildabrötchen, eine Konzertkarte (von den vergangenen Ferien mit der Tochter), Photographien der Enkel, Hustenbonbons, Spalttabletten, Magentabletten zum Kauen, Papiertaschentücher und ein Erfrischungstuch, zerknitterte Zuckertütchen (von den Ferien), ein Nagelnecessaire, eine Regenhaube im Etui, das Portemonnaie, den Schlüsselbund.
    Mein erster Freund hatte eine flache Tasche aus Ziegenfell zum Umhängen mit weißen und blau eingefärbten Streifen. Ich hatte so eine Tasche vorher noch nicht gesehen. Er sagte, sie sei aus der Türkei, eine frühere Freundin habe sie ihm mitgebracht. Mein erster Freund hatte einen Spitzbart und lange Haare und war ein Hippie, wie die Eltern sagten. Ich war ein braves Mädchen. Damals war die Pille ein ungeheuerliches Wort, so ungeheuerlich, daß, wenn die fünf Buchstaben auf den Zeitungstafeln der Kioske erschienen, Mutter den Schritt beschleunigte.
    Mein erster Freund schlief mit schönen Mädchen, die schon Frauen waren; mit mir spielte er Gitarre. Like a bird on a wire. In seiner Tasche, die keine Handtasche, sondern eine Umhängetasche war, waren Tabak und Papierblättchen zum Drehen und ein Notizbuch, in das er Lieder und Gedichte schrieb. Er hatte immer ein Taschenbuch dabei, das Glasperlenspiel von Hermann Hesse etwa oder das Stundenbuch von Rilke. Ich fand Hesse langweilig und das Stundenbuch albern. Heimlich. In einer Anthologie aus der Stadtbibliothek wurde ich auf den Namen Jerzy Kosinski aufmerksam. Mein erster Freund, der damals schon 18 war, lieh für mich »Der bemalte Vogel« aus. Man mußte dafür unterschreiben und einen Ausweis vorlegen. Like a bird. Ich las es, ohne daß jemand mich sah. Ich weiß nicht mehr, wo ich das Buch versteckte. Wahrscheinlich in der Schultasche zwischen dem Wallenstein und der Logarithmentafel.
    Ich habe in meinem Leben nie ein Verhältnis zu meinem Vater bekommen. Wir waren ein Frauenhaushalt, meine Großmutter, meine Mutter und ich, in dem der Vater als eine Art seltsamer Untermieter gehalten wurde. Meine Mutter war das einzige Kind meiner Großmutter, wie ich das einzige Kind meiner Mutter war. Meine Großmutter und meine Mutter waren das, was sie »Flüchtlinge« nannten. Was ein Flüchtling ist, wurde mir nie erklärt. Meine Mutter und meine Großmutter unterhielten sich in einer Sprache, die aus nicht hinterfragbaren Chiffren und Kürzeln bestand. Das wichtigste Wort in diesem Kosmos war: »Zuhaus«. Die Topographien hießen »Tschechei« und »Sudetenland«. Ich bin aufgewachsen im Bewußtsein, daß der Ort, an dem ich war, vieles sein konnte, aber eben nicht »Zuhaus«. In unserem Zusammenleben gab es den ständigen Bezug auf jenes »Zuhaus«, aus dem meine Mutter und meine Großmutter vertrieben worden waren. Es mußte das Schlimmste sein, begriff ich, wenn man aus einem »Zuhaus« vertrieben worden ist. Weil es ein »Zuhaus« nämlich nur einmal gibt. Sie konnten damals auch kaum etwas mitnehmen von dem »Zuhaus«. Nur das, was sie in Koffern und Taschen forttragen konnten.
    Ich selbst hatte keine Bilder für Heimat oder Fremde.
    Die wichtigste Tasche meiner Großmutter war ihre Hand. Sie konnte jagen und schnappen.
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