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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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ineinanderübergehende Ortschaften. Apartmenthäuser, Bankfilialen, Restaurants. Vila do Conde wird angezeigt, wo sie vor Jahren in einem schönen Hotel gewohnt haben, das er heute Mittag im Internet nicht finden konnte. Linker Hand ist das Meer zu erahnen, aber nicht zu sehen. Eine sternklare Nacht wölbt sich über das Land, der Halbmond steht hoch und scheint sich in der eigenen Rundung zu wiegen. Leben im Diskontinuum, er weiß nicht, wie er sich fühlt. Gestern hat er an der Maurenmauer gesessen und ein Bier getrunken und dann noch eins, bis ihm innerlich kalt wurde. Am Abend waren sie gemeinsam im Bairro Alto und hatten viel zu lachen. Wenn João gut drauf ist, kann er ein ganzes Restaurant unterhalten.
    »Bist du sauer auf mich, weil ich’s dir nicht gesagt habe?«, fragt Maria.
    »Es war ihre Entscheidung. Sie würde dir nicht verzeihen, wenn du’s mir gesagt hättest. Unsere Tochter ist ziemlich tough geworden. Sie alleine bestimmt, wo’s langgeht.«
    »Habt ihr gestritten?«
    »Nein. Doch, aber nur kurz. Wir haben uns gründlich ausgesprochen. Das war überfällig. Wahrscheinlich ist es mein Fehler, dass es sich wie ein Verlust anfühlt.« Hätte er vorhin nicht diese Bemerkung gemacht, würde Maria jetzt eine Hand auf sein Bein legen und sagen, dass sie versteht, was er meint. Dass es ihr ebenso gehe. Stattdessen nickt sie mit zusammengepressten Lippen, und er denkt: Unser Leben ist die Parodie unserer Träume. Er meinte das ganz genau so.
    »Sie wird nach Santiago gehen«, sagt er. »Aber wahrscheinlich wusstest du das auch vor mir. Nächstes oder übernächstes Semester. Ihre Bewerbung läuft schon.«
    »Nein, wusste ich nicht.«
    »Wegen Gabriela natürlich. Ich finde, sie macht sich ein bisschen zu abhängig.« Heute Morgen beim Frühstück hat er sich informieren lassen über das, was dort an der Universität entstehen soll, ein neuer fächerübergreifender Forschungscampus, der natürlich auch in Santiago Exzellenzcluster heißen muss. Seine Warnung vor allen akademischen Einrichtungen, die mit Exzellenz beginnen, ist bei Philippa auf die erwartet tauben Ohren gestoßen.
    »Sie meint, irgendwann leben wir sowieso alle auf der iberischen Halbinsel«, fügt er hinzu, weil Maria schweigt.
    »Werden wir das?«
    Am linken Rand des Navigationsgeräts taucht ein blauer Streifen auf und wird langsam breiter. Einmal sind sie mit dem Mietwagen hier entlanggeirrt und haben die Agentur gesucht, bei der sie das Auto zurückgeben mussten. Ganz in der Nähe des Flughafens, auf den abseits der Zubringer kein Schild hinweist.
    »Das werden wir, wenn wir uns dafür entscheiden.«
    »Wohin fahren wir jetzt?«
    »Blindlings in die Nacht. Willst du in Rapa anrufen oder nicht?«
    »Ich müsste, aber ich kann jetzt nicht mit meiner Mutter sprechen, Hartmut. Sie ist krank vor Angst, und ich will nicht hören, dass am Ende alles in Gottes Händen liegt. Dass wir nur hoffen und beten können. Ich fürchte, ich würde ihr sagen, dass sie eine verrückte alte Schachtel ist und endlich ein anderes Buch lesen soll.«
    »War es sehr anstrengend in Kopenhagen?«
    »Es war schrecklich.«
    »Ruf Philippa an«, sagt er. »Übrigens ist es komisch, aber nach über zwanzig Jahren wüsste ich nicht, was ich antworten sollte, wenn jemand mich fragt, ob du religiös bist.«
    Zu seiner Überraschung wendet Maria ihm nicht nur das Gesicht zu, sondern legt eine Hand auf seinen Oberschenkel. Fährt sachte darauf hin und her. Inzwischen ist es ihm gleichgültig, ob sie in einem Hotel übernachten oder in die Serra da Estrela fahren, aber bevor sie das eine oder andere tun, will er das Meer sehen. Ohne Grund. Er will einfach.
    »Hättest du eine Antwort auf die Frage, ob du es bist?«, fragt sie. »Nach fast sechzig Jahren.«
    »Nein.« Schilder weisen auf Strände und Campingplätze hin. Hier und da leuchtet Bierreklame über dem offenen Eingang einer Gastwirtschaft. »Trotzdem frage ich mich, wie es sein kann, dass wir seit zwei Jahrzehnten verheiratet sind und solche Dinge nicht voneinander wissen.«
    »Du meinst, du fragst dich, was wir noch alles nicht voneinander wissen.«
    Kurz berührt er ihre Hand, dann muss er wieder schalten. Er wartet auf eine Möglichkeit, nach links abzubiegen. Seit Maria ihn darauf hingewiesen hat, spürt er den Sonnenbrand in seinem Gesicht. Auf den Unterarmen auch.
    »Heute Nachmittag war ich in Coimbra«, sagt er. »Erinnerst du dich?«
    Sie nickt, antwortet aber nicht.
    »Philippa und João sind am
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