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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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springen auf und ab. Ihr gemeinsames Lachen klingt übermütig, beinahe hysterisch. Maria hält sich beide Hände vors Gesicht. Seine Schultern beben. Als ihnen ein Auto entgegenkommt, wäre Hartmut beinahe in den Straßengraben gefahren.
    »Politesse ist gut«, sagt er und wischt sich über die Augen.
    Das Dorf, in das sie kommen, besteht aus wenigen Häusern. Ein blaues Neonschild mit Wackelkontakt gehört zum einzigen, bereits geschlossenen Restaurant. Auf der Strandpromenade halten die Laternen Abstand zueinander. Gelbes Licht fällt über eine Mauer auf schmutzigen Sand, auf dunkle Streifen von Tang und zusammengerollte Fischernetze. Die Boote liegen weiter rechts in der Dunkelheit. Sobald Hartmut den Wagen geparkt und den Motor abgestellt hat, verschlingt Stille die letzten Reste ihres Lachens.
    »Hier?«, fragt Maria.
    »Hier.« Er lässt sein Fenster runter und atmet den Geruch von Salz und Moder. Auch Kuhmist glaubt er zu riechen, obwohl keine Weiden zu sehen sind. Das Meer ist schwarz und bewegt sich kaum. »Setzen wir uns auf eine Bank?«
    »Ist vorher noch Zeit für einen Kuss?« Es klingt, als wollte sie ihn daran erinnern, dass sie wieder in Portugal sind, gemeinsam und im Urlaub. Hier ist es anders, scheint sie sagen zu wollen. Ihre Lippen zittern, und er fühlt sich beobachtet, während sie einander küssen.
    Als sie aussteigen, ist es kühl geworden. Auf der Bank liegt ein feuchter Film. Hartmut wischt mit der Hand darüber, dann sitzen sie nebeneinander und starren auf die schäbige Kulisse des Strandes. Wie die hässliche Rückseite dessen, was Postkarten zeigen.
    »Es ist merkwürdig«, sagt er, »wie man sich an Situationen erinnert und die Details vergisst. Heute in Coimbra bin ich in die Alte Kathedrale gegangen. Ich wusste noch, dass Philippa und ich damals alleine dort waren und sie an meiner Hand gezerrt hat, weil sie mich von irgendwas weg- oder zu irgendwas hinziehen wollte. Ich hatte vergessen, was es war, aber es muss eine der riesigen Muscheln gewesen sein, die da stehen. Eine beim Eingang, die zweite vorne neben dem Altar. Sie kommen aus dem Indischen Ozean und dienen als Weihwasserbecken.« Er hält inne, um mit ausgestreckten Händen den Durchmesser von fast einem Meter anzudeuten. »Das war es, was unsere Tochter fasziniert hat, Riesenmuscheln. Auf Portugiesisch heißen sie chamadas tridácmas, steht auf dem Schild daneben.«
    »Du hättest mich vorwarnen sollen.« Maria hat die Strickjacke wieder angezogen und hält die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich hab mich auf unser Wiedersehen gefreut. Die ganze Zeit über.«
    »Ich auch. Quer durch Europa bin ich gefahren, um nachzudenken über unsere Zukunft, meine und deine. Ich wollte dich wiedersehen und dir sagen, dass ich meine Professur aufgeben und nach Berlin ziehen werde. Diese Stelle in Peters Verlag ist zwar nicht besonders attraktiv, aber – ich weiß nicht, was du dir vorstellst. Ich schaffe es nicht, das ist mir während des letzten Jahres klar geworden. Die Zeit bis zu meiner Emeritierung ist zwar überschaubar, aber trotzdem zu lang. Was wir in den letzten zwei Jahren geführt haben, war keine Ehe.«
    Nahe am Strand sind Felsen auszumachen, deren Konturen sich kaum abheben vom dunklen Wasser. Hin und her geisternde Taschenlampen lassen die Umrisse erahnen. Dorfbewohnersuchen nach Krebsen oder anderen Wassertieren. Maria sitzt neben ihm und rührt sich nicht.
    »Aber während der Reise«, sagt er, »ist mir was anderes klar geworden. Dass ich nicht weiß, ob du überhaupt willst, dass ich nach Berlin komme. Oder ob sich die Dinge zwischen uns geändert und wir angefangen haben, unser eigenes Leben zu leben. Jeder für sich, schon vor deinem Umzug. Ich für die Arbeit und du ... sag selbst.«
    »Ohne Arbeit«, erwidert sie leise. »Die wandelnde Parodie meiner Träume.«
    »Vor ein paar Tagen im Gespräch mit Philippa ist mir der Satz rausgerutscht, dass ich den Schritt nur machen würde, wenn ich sicher wüsste, dass du es willst. Heute in Coimbra saß ich in der Kirche und hab nachgedacht. Wenn ich das nicht weiß, wenn ich dessen nicht sicher bin, ganz zu schweigen davon, dass ich nicht mitgekriegt habe, was mit unserer Tochter los ist – was ist mir noch entgangen? Hast du damals schon daran gedacht, alleine nach Berlin zu gehen? Ich meine nach meiner geplatzten Bewerbung.«
    »Fragst du mich das? Jetzt, sechzehn oder siebzehn Jahre später.«
    »Du hast gesagt, du konntest dir nicht vorstellen, wie es auf meiner
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