Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Liebe und Vergeltung

Titel: Liebe und Vergeltung
Autoren: Mary Jo Putney
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
    ENGLAND, 1839
    Er nannte sich Mikahl Khanauri und kam nach London, um Rache zu nehmen.
    Die „Kali“ segelte in der Dämmerung die Themse hinauf. Ihr Ziel war eine Bucht der Isle of Dogs. Ein fauliger Geruch hing in der Luft, der Gestank viel zu dicht besiedelten Landes.
    Mikahl lehnte sich an den Fockmast, betrachtete die sich auf dem Fluß spiegelnden Lichter der Stadt und lauschte dem leisen Rauschen der gegen den Bug anrollenden Wellen.
    Ein zufälliger Beobachter hätte seine Haltung gelöst gefunden, doch der Anschein der Entspannung trog. Das war das Ergebnis vieler Jahre harter Selbstbeherrschung, die Mikahl mittlerweile zur zweiten Natur geworden war. Er hatte frühzeitig begriffen, daß es ratsamer war, niemandem zu zeigen, was er dachte und fühlte. In der Vergangenheit hatte er die Kunst der Verstellung zu so großer Meisterschaft gebracht, daß selbst er manchmal nicht wußte, was in ihm vorging.
    An diesem Abend war er sich seiner Gefühle jedoch sehr sicher. Sein Peiniger lebte dort, verborgen von der Nacht, und dieses Wissen erfüllte ihn mit kalter Genugtuung. Ein Vierteljahrhundert hatte er darauf gewartet, daß der richtige Moment kam, um den Feind langsam und qualvoll für das büßen zu lassen, was er ihm angetan hatte.
    Sein Haß war entfacht worden, als er zehn Jahre alt war. Von Jahr zu Jahr hatte er ihn genährt, gnadenlos und zielstrebig. Das Warten auf den Augenblick der Rache und die Vorbereitungen für die Zerstörung der menschlichen Bestie hatten ihm grausame Freude bereitet und ihn zugleich gequält. Er war weit in der Welt herumgekommen, hatte viele Reichtümer erworben und sich geistig und körperlich für den Tag der Vergeltung gestählt. Er hatte zu überleben gelernt, in jedem Lande des Erdballes, unter allen Völkern. Was immer er sich an neuen Fähigkeiten und Kenntnissen erworben hatte, jedes Kleinod, das sein Vermögen vergrößerte — alles war für ihn nur ein weiterer Schritt gewesen auf dem Wege zur endgültigen Abrechnung mit dem Gegner.
    Schon aus der Ferne hatte er ein Netz um sein Opfer gewoben. Die letzten Fallstricke würde er nun hier auslegen, geduldig und sehr sorgfältig. Er wollte den Feind fühlen lassen, daß sein Ende bevorstand, wollte aus nächster Nähe miterleben, wie seine Beute litt und sich wehrte. Er wollte sich daran laben, wie der Unmensch den letzten Atemzug tat.
    Endlich war er hier! London, die größte Stadt Europas, lag vor ihm, mit all ihrem Glanz und Snobismus, ihrer Verkommenheit und ihren hehren Ansprüchen. Er überließ die Routine des Anlegens und der Hafenabfertigung dem Kapitän und zog sich in die Stille seiner Kajüte zurück.
    Sobald die Zollbeamten den Schoner verlassen hatten, schickte er dem Mann, der für die Durchführung seiner Absichten sehr wichtig war, eine dringende Nachricht.
    Und dann wartete er.
    Der als Mikahl Khanauri, Prinz Balagrini von Kafiristan, bekannte Mann — unsteter Wanderer wie sein Beiname, unermüdlicher Kämpfer, unermeßlich reicher Nabob und Held eines Volkes, das weit außerhalb des Machtbereiches englischer Gesetze lebte — verstand es zu warten. Doch bald, sehr bald sogar, würde das Warten ein Ende haben.
    Die Botschaft wurde Lord Alastair Carlisle auf dem schnellsten Wege überbracht, und kaum zwei Stunden später ging er an Bord der „Kali“.
    Mikahl stand im Schatten und sah den hochgewachsenen, schlanken jungen Mann an Deck kommen. Seit zwei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen, und unwillkürlich fragte er sich, wie stark die Bande der Freundschaft noch sein mochten, besonders hier in England. Obgleich Alastair und er vollkommen verschiedener Herkunft waren, hatten sie überraschenderweise doch in vielem übereingestimmt. In der Wildnis Vorderasiens mochte es für den jüngeren Sohn des Duke of
    Windermere noch akzeptabel gewesen sein, sich mit einem Abenteurer zweifelhafter Herkunft zu befreunden, aber es war eine ganz andere Sache, denselben Mann in die vornehme englische Gesellschaft einzuführen. Selbst im Gebirge des Hindukusch und angesichts des Todes hatte Alastair seine aristokratische Abstammung ja nicht verleugnen können. Auch jetzt, als er selbstbewußt in den Lichtkegel der Schiffslaterne trat, sah man ihm den Stand an, den er repräsentierte. Der taillierte Mantel, der schwarze Frack, das seidig schimmernde Krawattentuch und die hellen Gamaschenhosen hatten gewiß Beträge gekostet, die genügt hätten, eine kafirische Familie monatelang zu ernähren. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher