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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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Vormittag aufgebrochen, und ich hatte keine Lust, in der Wohnung zu sitzen. Alleine mit meinen Gedanken. Also bin ich losgefahren. Als auf der Autobahn das Schild auftauchte, dachte ich, warum nicht einen Stopp einlegen. Es ist lange her. Ich hatte Zeit.«
    »Hat sich viel verändert?«
    »In der Altstadt kaum. Oben an der Uni wird renoviert. Ich wusste nicht mehr, ob wir damals die Bibliothek besucht haben; nur noch, wie ich mit Philippa vor dem Eingang saß und ihr von den Fledermäusen erzählt habe. Eigentlich mag ich keinen Barock, aber drinnen ist es wunderschön, beinahe unwirklich. Bücher, die kein Mensch mehr lesen wird. Ich glaube, wir waren in dem Sommer dort, nachdem meine Bewerbung in Berlin sich zerschlagen hatte.«
    »Ich weiß«, sagt sie.
    »Außerdem wusste ich nicht mehr, dass mittelalterliche Universitäten eigene Gefängnisse hatten. Die von Coimbra jedenfalls. Fensterlose Kerker, die man besichtigen kann.« Er lacht kurz auf. »Du kannst dir vorstellen, welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen sind, als ich in einer der Zellen stand.«
    Spürt er in ihrer ausbleibenden Antwort ein Unbehagen oder fühlt er sich selbst unbehaglich? Es war ein heißer Tag, und er hatte vergessen, sich mit Sonnencreme einzureiben, bevor er das Auto verließ. Am Ende der großen Brücke über den Rio Mondego. Auf der anderen Seite erhob sich dieselbe weiße Stadt wie damals, über steile Felsen gebaut und eine rätselhafte Melancholie ausstrahlend. Hartmut erkannte das Hotel Astória und dachte an den holzvertäfelten dämmrigen Speisesaal. Überall die Spuren eines allmählichen stolzen Verfalls und die Mattigkeit langer Sommertage.
    »Vor zwei Wochen«, sagt er, »bin ich aufgebrochen, weil ich in Ruhe nachdenken wollte. Aber dann hat die Reise mich eher abgelenkt. Unterwegs sieht man neue Dinge und redet mit anderen Leuten als sonst. Ohne Alltag, der einem alles souffliert. Es war ein bisschen wie früher, als wir noch darübernachgedacht haben, welches Leben wir leben wollen. Verstehst du?«
    »Ich mag es nicht, wenn du so redest«, sagt sie, ohne dass es abweisend klingt. »Wenn du was wissen willst, dann frag mich.«
    »Ich hab dich furchtbar vermisst. Ich bin weggefahren aus Bonn, weil ich nicht allein sein wollte, aber meistens war es unterwegs kaum besser. Einmal hab ich mich heftig betrunken und bin nachts mit fremden Leuten um ein Feuer getanzt. Irgendwo an einem spanischen Strand. Ich!« Lächelnd wendet er den Kopf, aber Maria blickt geradeaus. Es ist merkwürdig, wie sie beide auf unterschiedliche Weise dasselbe tun. Jeder für sich versuchen sie herauszufinden, was er eigentlich sagen will; er redend, sie schweigend. »Wenn du mit dem Flugzeug gekommen bist, hast du wahrscheinlich keinen Joint dabei, oder?«
    »Ich hab João gesagt, er soll was mitbringen. Keine Ahnung, ob er’s getan hat.«
    »Wieso haben wir dieses eine Mal nie wiederholt?«
    »Wie ich am Telefon gesagt habe, ich hatte nicht den Eindruck, dass du es willst.«
    »Ich hab’s mir oft vorgestellt. Ich würde gerne in Rapa auf dem Balkon sitzen und einen Joint mit dir rauchen. Beim ersten Mal hatte ich Angst, aber jetzt ...« Ohne ersichtlichen Grund bringt die Vorstellung ihn zum Lachen. In Wirklichkeit wird seine Angst immer größer. »Unsere Tochter wird sagen, wir seien unmöglich.«
    »Dann werden wir ihr klarmachen, dass sie sich um ihren eigenen Scheiß kümmern soll«, erwidert Maria kühl.
    Beim nächsten Kreisverkehr biegt Hartmut von der Hauptstraße ab. Passiert den leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums und folgt der holpriger werdenden Straße entlang hoch bewachsener Maisfelder. Im nächsten Dorf sind die Gassen so eng, dass die Bewohner reflektierende Strahler an den Hauswänden befestigt haben. Keine Menschenseele zeigt sich, es ist wie durch einen verwaisten Irrgarten zu fahren, über Kopfsteinpflaster mitunbefestigten Rändern. Staub wirbelt auf und bekommt im Rückspiegel einen unwirklich roten Schimmer.
    »Es ist nämlich ungerecht«, sagt Maria. »Wir dürfen nicht über ihr Leben urteilen, aber sie über unseres sehr wohl. In Zukunft wird sie jede Kritik mit dem Vorwurf kontern, wir könnten uns bloß nicht damit abfinden, dass sie ... Das ärgert mich.«
    »Dass sie was?«, fragt er.
    »Als Gabriela in Berlin war, durfte ich nicht rauchen in ihrer Gegenwart. So sieht das Ergebnis unserer Erziehung aus, eine spießige lesbische Politesse, die uns Verbote erteilt.«
    Die langen Lichtkegel der Scheinwerfer
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