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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
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legte das Blatt wieder auf den Tisch und öffnete rasch die übrigen Umschläge.
     

3
     
    Hervé Decambrais erschien ein paar Minuten vor dem Beginn des Halbneun-Ausrufens. Er lehnte sich an den Türrahmen und wartete auf das Erscheinen des Bretonen. Seine Beziehung zu dem Fischer war von Schweigen und Feindseligkeit geprägt. Decambrais gelang es nicht, herauszufinden wieso. Er neigte dazu, die Verantwortung dafür dem ungeschliffenen, wie aus Granit gemeißelten und wahrscheinlich gewalttätigen Burschen zuzuschieben, der vor zwei Jahren mit seiner Kiste, seiner albernen Urne und seiner Ausruferei, mit der er der Öffentlichkeit dreimal am Tag eine Tonne kümmerliche Scheiße vor die Füße warf, aufgetaucht war und die empfindliche Ordnung seines Lebens durcheinandergebracht hatte. Anfangs hatte er dem keine Bedeutung beigemessen, er war überzeugt davon, daß der Kerl keine Woche durchhalten würde. Aber die Sache mit dem Ausrufen hatte bemerkenswert gut funktioniert, der Bretone hatte seine Kundschaft fest vertäut und hatte sozusagen Tag für Tag volles Haus, wirklich eine Belästigung.
    Um nichts in der Welt hätte Decambrais auf das Schauspiel dieser Belästigung verzichtet, und um nichts in der Welt hätte er das zugegeben. Jeden Morgen nahm er daher mit einem Buch in der Hand seinen Platz ein, hörte dem Ausrufer mit gesenktem Blick zu und blätterte dabei die Seiten um, wobei er in seiner Lektüre nicht eine Zeile weiterkam. Zwischen zwei Rubriken warf Joss Le Guern ihm manchmal einen kurzen Blick zu. Decambrais mochte diesen kurzen Blick aus blauen Augen nicht. Es schien ihm, als wolle der Ausrufer sich seiner Anwesenheit vergewissern, als stelle er sich vor, auch ihn mit der Zeit an der Angel zu haben wie einen gewöhnlichen Fisch. Denn der Bretone hatte nichts anderes getan, als seine rohen Fischerreflexe auf die Stadt anzuwenden und wie ein wirklich professioneller Fänger die Schwärme der Passanten in seinen Netzen zu fangen, als handele es sich um Kabeljau. Passanten, Fische das war ein und dasselbe in seinem runden Kopf: Er nahm sie aus, um ein Geschäft zu machen.
    Aber Decambrais hatte es gepackt, und er kannte die menschliche Seele zu gut, um das nicht zu wissen. Nur das Buch, das er in der Hand hielt, unterschied ihn noch von den anderen Zuhörern auf dem Platz. Wäre es nicht angemessener, das verdammte Buch wegzulegen und dreimal am Tag dazu zu stehen, daß er nichts war als ein Fisch? Also ein Besiegter, ein von dem albernen Ruf der Straße mitgerissener Homme de lettre?
     
    Joss Le Guern hatte sich an diesem Morgen ein wenig verspätet, was höchst ungewöhnlich war, und aus den Augenwinkeln beobachtete Decambrais, wie der Fischer herbeieilte und die leere Urne solide am Stamm der Platane befestigte, diese Urne in schreiendem Blau mit dem anmaßenden Namen Le Vent de Norois II. Decambrais fragte sich, ob der Fischer noch ganz richtig im Kopf war. Er hätte gern gewußt, ob Le Guern auf diese Weise wohl seinen ganzen Besitz benannt hatte, ob seine Stühle, sein Tisch einen Namen trugen. Dann sah er zu, wie Joss sein schweres Podest mit seinen Hafenarbeiterhänden umdrehte, es ebenso leichthändig auf den Bürgersteig stellte, wie er mit einem Vogel umgegangen wäre, mit einem großen, energischen Schritt hinaufstieg, als ginge er an Bord, und die Blätter aus seiner Matrosenbluse zog. Etwa dreißig Personen warteten geduldig, darunter Lizbeth, immer treu auf ihrem Posten, die Hände an den Hüften.
    Lizbeth bewohnte bei ihm das Zimmer Nr. 3, und statt Miete zu zahlen, trug sie dazu bei, daß seine kleine inoffizielle Pension reibungslos funktionierte. Eine entscheidende, strahlende, unersetzbare Hilfe. Decambrais lebte in steter Furcht vor dem Tag, an dem ihm jemand seine herrliche Lizbeth klauen würde. Irgendwann würde dies unweigerlich geschehen. Lizbeth war groß, dick und schwarz und von weitem zu sehen. Es bestand daher keinerlei Hoffnung, sie vor den Augen der Welt zu verbergen. Um so weniger, als Lizbeth kein diskretes Temperament hatte, laut redete und großzügig ihre Meinung zu allem und jedem verbreitete. Das gravierendste dabei war, daß Lizbeths Lächeln, das glücklicherweise nicht häufig auf ihrem Gesicht erschien, ein kaum zu unterdrückendes Bedürfnis auslöste, sich in ihre Arme zu werfen, sich gegen ihren dicken Busen zu drücken und sich dort für immer häuslich einzurichten. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, und eines Tages würde er sie verlieren. Einstweilen
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