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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
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Lizbeth, wäre auf den Gedanken gekommen, ihm zu sagen, er könne seine Rubrik einpacken. Man hörte zu, wie in der Kirche.
    »Unwirtliches Septemberwetter«, erklärte der Ausrufer, das Gesicht zum Himmel gewandt. »Aufklaren nicht vor sechzehn Uhr zu erwarten, abends etwas besser, wer ausgehen will, kann das tun, nehmen Sie dennoch was Warmes zum Drüberziehen mit, frischer Wind, nachlassend, dann heiter. Seewetterbericht, Nordatlantik, allgemeine Wetterlage heute und weitere Entwicklung: Hochdruckgebiet 1030 südwestlich Irland, mit sich verstärkendem Hochdruckrücken über dem Kanal. Sektor Cap Finistère, Ost bis Nordost, fünf bis sechs im Norden, sechs bis sieben im Süden. Bewegte See, örtlich stark, West bis Nordwest.«
    Decambrais wußte, daß der Seewetterbericht seine Zeit dauerte. Er drehte sein Blatt um, um die beiden Annoncen auf der Rückseite zu lesen, die er an den Tagen zuvor notiert hatte:
     
    Zu Fuß unterwegs mit meinem kleinen Diener (den ich nicht zu Hause zu lassen wage, denn bei meiner Frau faulenzt er stets), um mich dafür zu entschuldigen, daß ich nicht zum Diner bei (...) gegangen bin, die, wie ich sehr wohl merke, verärgert ist, weil ich ihr nicht die Möglichkeit verschafft habe, wohlfeil ihre Einkäufe für das große Festmahl zu Ehren der Ernennung ihres Mannes zum Lektor zu erledigen, aber das ist mir egal.
     
    Decambrais runzelte die Stirn und kramte erneut in seinem Gedächtnis. Er war überzeugt, daß es sich bei dem Text um ein Zitat handelte und er es irgendwo, irgendwann in seinem Leben schon einmal gelesen hatte. Wo? Wann? Er sah sich die nächste Botschaft an, die vom Vortag:
     
    Zu derlei Zeichen gehöret eine außergewöhnliche Fülle kleiner Tiere, die aus Fäulnis erstehen, wie es Flöhe, Fliegen, Frösche, Kröten, Gewürm, Ratten und dergleichen sind, welcherlei Gethier große Zersetzung bezeugt, sey sie in der Luft, sey sie in der Feuchtigkeit der Erde.
     
    Der Seemann war beim Vorlesen mehrfach gestolpert, hatte ›Gethier‹ gesagt und das Verb ›sej‹ ausgesprochen. Decambrais hatte den Auszug einem Text aus dem 17. Jahrhundert zugeordnet, war sich jedoch nicht ganz sicher.
    Zitate eines Verrückten, eines Besessenen, das war das Wahrscheinlichste. Oder eines Oberlehrers. Oder eines Machtlosen, der danach trachtete, sich Macht zu verschaffen, indem er unverständliche Botschaften verbreitete, sich genüßlich über das Gewöhnliche erhob und dabei dem Mann von der Straße dessen krasse Unbildung demonstrierte. In diesem Falle hörte er ganz sicher zu, stand in der kleinen Menge, um sich an den stumpfsinnigen Gesichtsausdrücken zu weiden, die die gelehrten Botschaften hervorriefen, welche auch der Ausrufer nur mit Mühe las.
    Decambrais klopfte mit dem Stift auf das Blatt. Selbst unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, blieben Absicht und Persönlichkeit des Verfassers für ihn im dunkeln. Sosehr die Anzeige Nr. 14 vom Vortag, Leckt mich doch am Arsch, Ihr Schweinebande, die in ähnlicher Form wohl schon tausendmal gehört worden war, mit ihrer kurzen, summarischen Wut den Vorzug der Klarheit hatte, so sehr sträubten sich die gewundenen Botschaften des Oberlehrers gegen jede Entschlüsselung. Er mußte seine Sammlung vergrößern, um zu verstehen, er mußte sie Morgen für Morgen hören. Vielleicht war es ja ganz einfach das, was der Verfasser sich wünschte: daß man jeden Tag an seinen Lippen hing.
    Der Seewetterbericht war kryptisch zu Ende gegangen, und mit seiner schönen Stimme, die bis an die andere Seite der Kreuzung trug, nahm der Ausrufer die Litanei wieder auf. Er beendete gerade seine Rubrik Sieben Tage in der Welt, in der er auf die ihm eigene Weise die internationalen Nachrichten des Tages in Form goß. Decambrais schnappte die letzten Sätze auf: In China hat keiner was zu lachen, und als ob nichts wäre, regiert dort noch immer der Prügelstock. In Afrika steht's nicht zum besten, heute nicht mehr als gestern. Die Chance, daß es sich morgen bessert, ist nicht groß, da sich niemand für die Afrikaner den Arsch aufreißt. Jetzt machte der Ausrufer mit Anzeige 16 weiter, in der ein elektrischer Flipper aus dem Jahr 1965 zum Verkauf angeboten wurde, verziert mit barbusigen Frauen und in einwandfreiem Zustand. Gespannt wartete Decambrais, den Bleistift fest in der Hand. Und die Anzeige kam, deutlich zu identifizieren unter all den Ich liebe dich, ich verkaufe, leckt mich doch und ich kaufe. Decambrais glaubte zu bemerken, daß der Fischer
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