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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
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nichts in der Welt hätte Joss den Dingen vertraut, ebensowenig wie den Menschen oder dem Meer. Erstere rauben einem den Verstand, die zweiten die Seele und letzteres das Leben.
     
    Als kampferprobter Mensch hatte Joss das Schicksal nicht herausgefordert und den Kaffeesatz aufgesammelt bis zum letzten Krümel, ergeben wie ein Hund. Ohne zu murren, hatte er Buße getan, und die Welt der Dinge hatte sich wieder ms Joch gefügt. Dieser morgendliche Zwischenfall schien unbedeutend, allem Anschein nach nur eine harmlose Unannehmlichkeit, für Joss aber, der sich nicht täuschen ließ, war er eine unmißverständliche Erinnerung daran, daß der Krieg zwischen den Menschen und den Dingen weiterging und daß der Mensch in diesem Kampf nicht immer siegreich war, bei weitem nicht. Eine Erinnerung an Tragödien, an entmastete Schiffe, an zerschmetterte Trawler und an sein Schiff, Le Vent de Norois, das am 23. August um drei Uhr morgens und mit acht Mann an Bord in der Irischen See leckgeschlagen war. Joss hatte die hysterischen Anwandlungen seines Trawlers bei Gott immer respektiert, und Mensch und Schiff brachten einander bei Gott einiges Verständnis entgegen. Bis zu jener verdammten Sturmnacht, als er in einem Wutanfall mit der Faust auf den Dollbord eingeschlagen hatte. Le Vent de Norois hatte schon fast auf Steuerbord gelegen und war im Heck jäh leckgeschlagen. Die Maschine war buchstäblich abgesoffen, so daß der Trawler die ganze Nacht auf dem Meer trieb, die Männer hatten pausenlos Wasser geschöpft, bis das Schiff schließlich bei Tagesanbruch auf ein Riff gelaufen war. Vor vierzehn Jahren war das gewesen, und zwei Männer hatten dabei ihr Leben gelassen. Vierzehn Jahre war es her, daß Joss den Schiffseigner der Norois mit Tritten vermöbelt hatte. Vierzehn Jahre, daß er den Hafen von Le Guilvinec verlassen hatte, nachdem er neun Monate wegen Körperverletzung mit Tötungsabsicht im Knast gesessen hatte. Vierzehn Jahre war es nun her, daß beinahe sein ganzes Leben in jener Wasserstraße versunken war.
     
    Joss ging die Rue de la Gaîté hinunter, mit zusammengebissenen Zähnen und jener Wut im Bauch, die ihn jedes Mal packte, wenn die im Meer versunkene Vent de Norois auf den Wellenkämmen seiner Erinnerung auftauchte. Im Grunde war es nicht die Norois, gegen die sich sein Groll richtete. Der gute alte Trawler hatte mit dem Ächzen seiner im Lauf der Jahre verrotteten Planken einfach nur auf den Stoß geantwortet. Joss war vollkommen davon überzeugt, daß das Schiff die Tragweite seines kurzen Aufbegehrens nicht ermessen haben konnte und sich seines hohen Alters, seiner Gebrechlichkeit und der Wucht der Wellen in jener Nacht einfach nicht bewußt gewesen war. Mit Sicherheit hatte der Trawler den Tod der zwei Seeleute nicht gewollt, und jetzt, wo er wie ein Idiot in der Tiefe der Irischen See ruhte, bereute er vermutlich alles. Häufig bedachte Joss ihn mit Worten des Trostes und der Absolution und hatte das Gefühl, daß es dem Schiff, wie ihm selbst, mittlerweile gelang, Schlaf zu finden, und daß es sich dort unten ein neues Leben geschaffen hatte, ebenso wie er, Joss, hier in Paris.
     
    Absolution für den Schiffseigner jedoch kam nicht in Frage.
    »Auf, Joss Le Guern«, hatte dieser gesagt und ihm auf die Schulter geklopft, »bei Ihnen macht's der Kahn noch zehn Jahre. Er ist kampferprobt, und Sie wissen, wie man mit ihm umgeht.«
    »Die Norois ist gefährlich geworden«, hatte Joss hartnäckig wiederholt. »Sie schlingert, und die Beplankung verzieht sich. Die Lukendeckel haben sich gelockert. Bei schwerer See übernehme ich keine Verantwortung mehr. Und das Beiboot entspricht auch nicht mehr den Vorschriften.«
    »Ich kenne meine Schiffe, Kapitän Le Guern«, hatte der Eigner in schneidendem Ton erwidert. »Wenn Sie vor der Norois Angst haben, dann brauche ich nur mit den Fingern zu schnippen und hab zehn Männer, die bereit sind, Ihren Posten zu übernehmen. Männer, die Mumm in den Knochen haben und nicht ständig wie Beamte über die Sicherheitsvorschriften jammern.«
    »Und ich, ich hab sieben Jungs an Bord.«
    Der Eigner hatte sein fettes Gesicht bedrohlich vorgeschoben.
    »Falls Sie auf den Gedanken kommen sollten, zum Hafenamt zu gehen und sich dort auszuweinen, Joss Le Guern, dann verlassen Sie sich darauf, daß ich dafür sorge, daß Sie auf der Straße sitzen, bevor Sie's merken. Und von Brest bis Saint-Nazaire werden Sie nicht einen mehr finden, der Sie einstellt. Ich rate Ihnen, sich das gut
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