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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
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zu überlegen, Kapitän.«
    Ja, Joss bereute immer noch, daß er den Typen am Tag nach dem Untergang der Norois nicht richtig fertiggemacht, sondern ihm nur einen Arm gebrochen und das Brustbein eingeschlagen hatte. Aber ein paar Besatzungsmitglieder hatten ihn mit aller Kraft zurückgehalten. Mach dir nicht alles kaputt, Joss, hatten sie gesagt. Sie hatten sich ihm in den Weg gestellt und ihn davon abgehalten, dem Schiffseigner den Garaus zu machen - und auch dessen Knechten, die ihn nach der Entlassung aus dem Knast aus den Verzeichnissen gestrichen hatten. Joss hatte so laut in allen Kneipen herumgegrölt, die hohen Tiere im Hafenamt würden Provisionen kassieren, daß er der Handelsmarine hatte Lebewohl sagen können. Nachdem er in einem Hafen nach dem anderen abgelehnt worden war, hatte sich Joss schließlich an einem Dienstag morgen in den Zug Quimper-Paris gesetzt und war, wie so viele Bretonen vor ihm, an der Gare Montparnasse gestrandet. Er hatte eine Frau hinter sich gelassen, die ohnehin schon abgehauen war, sowie neun Typen, die er lieber hätte umbringen sollen.
     
    In Sichtweite der Kreuzung Edgar-Quinet angekommen, verstaute Joss seine nostalgischen Haßgefühle in seinen Gehirnwindungen und beeilte sich, die Verspätung aufzuholen. Diese ganzen Geschichten mit dem Kaffeesatz, dem Krieg der Dinge und dem Krieg der Menschen hatten ihn mindestens eine Viertelstunde gekostet. Nun war aber gerade Pünktlichkeit ein Schlüsselelement seiner Arbeit, und er legte großen Wert darauf, daß die erste Ausgabe seiner ausgerufenen Nachrichten um acht Uhr, die zweite um zwölf Uhr fünfunddreißig und die Abendausgabe um achtzehn Uhr zehn begann. Zu diesen Zeiten war der Andrang am größten, und die Zuhörer hatten es in dieser Stadt viel zu eilig, um auch nur die geringste Verzögerung zu dulden. Joss nahm die Urne von dem Baum, an dem er sie immer mittels eines doppelten Bulinknotens und zweier Schlösser für die Nacht befestigte, und wog sie in der Hand. Nicht schwer heute morgen, er würde die Lieferung recht schnell sortieren können. Er lächelte kurz, während er den Kasten in die Werkstatt hinter dem Laden trug, die Damas ihm zur Verfügung stellte. Es gab noch anständige Typen auf der Welt, Typen wie Damas, die einem einen Schlüssel und die Ecke eines Tischs überließen, ohne gleich Angst zu haben, man würde mit der Kasse abhauen. Damas, was für ein Vorname. Er war Inhaber des Rollerskates-Geschäfts am Platz, Roll-Rider, und gewährte Joss Zutritt, damit er seine Ausgaben im Trockenen vorbereiten konnte. Roll-Rider, was für ein Name.
    Joss entriegelte die Urne - einen groben Holzkasten, den er eigenhändig aus Schiffsplanken gezimmert und auf den Namen Le Vent de Norois II getauft hatte, um dem lieben Verstorbenen die Ehre zu erweisen. Vielleicht war es ja nicht sehr schmeichelhaft für einen großen Hochseetrawler, einen gemeinen Briefkasten in Paris als Nachkommen zu haben, doch es war schließlich kein beliebiger Kasten. Es war ein genialer Kasten, entworfen nach einer genialen Idee, die vor sieben Jahren das Licht der Welt erblickt und es Joss ermöglicht hatte, wieder fabelhaft auf die Beine zu kommen, nach drei Jahren Arbeit in einer Konservenfabrik, sechs Monaten in einem Spulenwerk und zwei Jahren Arbeitslosigkeit. Die geniale Idee war ihm in einer Dezembernacht gekommen, als er, zusammengesackt, ein Glas in der Hand, in einem zu drei Vierteln mit vereinsamten Bretonen gefüllten Café in Montparnasse das ewige Dröhnen der Stimmen seiner Heimat vernahm. Ein Mann hatte von Pont-d'Abbe gesprochen, und so geschah es, daß der Ururgroßvater Le Guern, geboren im Jahre 1832 in Locmaria, Joss' Kopf entstieg, sich an die Bar lehnte und ›Salut‹ zu ihm sagte. »Salut«, erwiderte Joss.
    »Erinnerst du dich an mich?« fragte der Alte.
    »Jaja«, brummte Joss. »Ich war noch nicht geboren, als du gestorben bist, und hab nicht geweint.«
    »Sag mal, Söhnchen, könntest du aufhören, Blödsinn zu faseln, wenn ich dich schon mal besuchen komme? Wie alt bist du?«
    »Fünfzig.«
    »Das Leben hat's nicht gut mit dir gemeint. Siehst älter aus.«
    »Ich kann auf deine Bemerkungen verzichten, ich hab dich nicht um Rat gefragt. Und du sahst auch nicht besonders gut aus.«
    »Paß auf, wie du mit mir sprichst, Junge. Du weißt, wie es ist, wenn ich mich aufrege.«
    »Jaja, das haben alle gewußt. Vor allem deine Frau, die du ihr Leben lang vermöbelt hast.«
    »Na ja«, erwiderte der Alte und verzog
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