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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
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weit entfernen wollte - »für alle Fälle«, wie er sagte -, und sich schließlich vor zwei Jahren an der Ecke Edgar-Quinet-Delambre niedergelassen. Dort zog er Marktgänger und Anwohner an, gewann die Büroangestellten, die sich mit den diskreten Stammkunden der Rue de la Gaítémischten, und erwischte en passant noch einen Teil der aus der Gare Montparnasse strömenden Menschenmenge. Kleine, dichtgedrängte Gruppen sammelten sich um ihn und hörten sich die Neuigkeiten an, gewiß weniger zahlreich als jene, die sich um den Urahn Le Guern geschart hatten, aber man mußte in Betracht ziehen, daß Joss täglich seines Amtes waltete, und das dreimal.
    Dafür kam in der Urne eine recht stattliche Anzahl von Nachrichten zusammen, durchschnittlich um die sechzig pro Tag - morgens viel mehr als abends, da die Nacht heimliche Briefeinwürfe begünstigte -, jede in einem verschlossenen Umschlag und mit einem Fünf-Francs-Stück versehen. Fünf Francs, um die eigenen Gedanken, die eigene Annonce, die eigene Suchanzeige hören zu können, die man dem Wind von Paris anvertraute, das war nicht zu teuer. Joss hatte es am Anfang mit einem Billigtarif versucht, aber die Leute mochten es nicht, wenn man ihre Worte für einen Franc verschleuderte. Das entweihte ihre Opfergabe. Der Preis kam sowohl den Gebern als auch dem Empfänger entgegen, und so strich Joss monatlich seine neuntausend Francs netto ein, die Sonntage inbegriffen.
     
    Der alte Ar Bannour hatte recht gehabt: An Material hatte es nie gemangelt, das mußte Joss während eines Saufabends in der Bar d'Artimon zugeben. »Vollgestopft mit Sachen, die sie loswerden wollen, die Menschen, ich hab's dir doch gesagt«, hatte der Vorfahr erklärt, sichtlich zufrieden darüber, daß der Kleine das Geschäft wiederaufgenommen hatte. »Vollgestopft wie alte Strohmatratzen. Vollgestopft mit Dingen, die sie zu sagen haben, und auch solchen, die man nicht sagt. Du, du sammelst alles ein und erweist der Menschheit damit einen Dienst. Du bist so was wie der Entlüftungshahn. Aber aufgepaßt, Söhnchen, so ganz ohne ist das nicht. Beim Wühlen in der Tiefe wirst du klares Wasser hochpumpen, aber genausogut auch Scheiße. Paß auf deinen Arsch auf, die Menschen haben nicht nur Schönes im Kopf.«
    Der Vorfahr hatte recht. Am Boden der Urne fand sich Sagbares und Nicht-Sagbares. »Unsagbares«, hatte der Gelehrte - der Alte, der neben Damas' Laden eine Art Hotel führte verbessert. Nachdem Joss den Kasten geleert hatte, begann er zwei Stapel aufzutürmen, den Stapel des Sagbaren und den des Nicht-Sagbaren. Gewöhnlich floß das Sagbare auf natürlichem Wege ab, das heißt durch den Mund der Menschen, als kleiner Bach oder als dröhnender Strom, was verhinderte, daß die Menschen unter dem Druck der angehäuften Wörter explodierten. Denn im Unterschied zur Strohmatratze kam beim Menschen jeden Tag neues Material hinzu, wodurch die Frage des Ablassens geradezu lebenswichtig wurde. Von diesem Sagbaren gelangte ein trivialer Teil bis in die Urne zu den Rubriken VERKAUFEN , KAUFEN , SUCHE , LIEBE , DIVERSE ÄUSSERUNGEN , TECHNIK , wobei Joss die Zahl der Anzeigen der letzten Rubrik begrenzte und sie mit sechs Francs berechnete, als Entschädigung für den Verdruß, den sie ihm beim Vorlesen bereiteten.
    Was der Ausrufer aber vor allem entdeckt hatte, war die ungeahnte Menge an Unsagbarem. Ungeahnt, weil in der Strohmatratze keine Öffnung vorgesehen war für das Ablassen dieser Wortmasse. Etwa weil die in ihr steckende Gewalt oder Dreistigkeit die Grenzen des Zulässigen überschritt, oder, im Gegenteil, weil sie nicht zu einem Grad allgemeiner Wichtigkeit emporsteigen konnte, der ihr Dasein gerechtfertigt hätte. Diese maßlosen wie auch die kümmerlichen Worte waren zu einem Leben in völliger Abgeschlossenheit verdammt, im Füllmaterial versteckt, unfähig, einen Ausgang zu finden, im Schatten, in der Schande und im Schweigen dahinlebend. Und doch starben sie nicht einfach ab, das hatte der Ausrufer in sieben Jahren Erntetätigkeit begriffen. Sie häuften sich an, überlagerten sich gegenseitig, verbitterten im Laufe ihrer Maulwurfsexistenz und sahen dabei wutschäumend dem aufreizenden Kommen und Gehen der flüssigen und zugelassenen Worte zu. Mit der Urne, die mit einem schmalen, tags wie nachts geöffneten Schlitz von zwölf Zentimeter Länge versehen war, hatte der Ausrufer eine Bresche geschlagen, durch die die Gefangenen wie ein Schwarm Heuschrecken entkamen. Es verging kein Morgen,
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