Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
an dem er nicht Unsagbares vom Boden seines Kastens schöpfte, Standpauken, Beschimpfungen, Verzweiflung, Verleumdungen, Denunziationen, Drohungen, blanken Irrsinn. Unsagbares, das mitunter so armselig, so hoffnungslos schwach war, daß man Mühe hatte, den Satz zu Ende zu lesen. Manchmal so verschachtelt, daß man den Sinn nicht zu fassen bekam. Bisweilen so zäh, daß einem schier das Blatt aus der Hand fiel. Und manchmal so haßerfüllt, so zerstörerisch, daß der Ausrufer es beiseite legte.
    Denn der Ausrufer sortierte aus.
    Obwohl er ein pflichtbewußter Mensch und darauf bedacht war, den am stärksten bedrängten Ausschuß des menschlichen Denkens dem Nichts zu entreißen und das erlösende Werk, das der Vorfahr begonnen hatte, fortzusetzen, nahm der Ausrufer für sich das Recht in Anspruch, auszusondern, was er selbst nicht über die Lippen brachte. Die nicht vorgelesenen Mitteilungen konnten zusammen mit dem Fünf-Francs-Stück wieder abgeholt werden, denn - und das hatte ihm der Vorfahr eingetrichtert - die Le Guerns waren keine Gauner. Jedesmal, wenn Joss ausrief, breitete er den Tagesausschuß auf seinem Kasten aus, der ihm als Podest diente. Es war immer etwas dabei. Alles, was Frauen aufs Korn nahm, alles, was Schwarze, Braune, Gelbe und Schwule zum Teufel wünschte, wanderte in den Ausschuß. Instinktiv ahnte Joss, daß er durchaus als Frau, Schwarzer oder Schwuler hätte geboren werden können und daß die Zensur, die er ausübte, keine Großmut war, sondern schlicht ein Überlebensreflex.
    Einmal im Jahr, während der Flaute zwischen dem 11. und dem 16. August, brachte Joss die Urne ins Trockendock, um sie auszubessern, abzuschleifen und ihr einen neuen Anstrich zu verpassen - hellblau über der Wasserlinie, ultramarinblau darunter, den Schriftzug Le Vent de Norois in Schwarz auf der Vorderseite, in großen, säuberlich geschriebenen Lettern, die Geschäftszeiten auf Backbord und die Preise sowie Weitere diesbezügliche Bedingungen auf Steuerbord. Diesen Ausdruck hatte er bei seiner Verhaftung und dann bei seiner Verurteilung oft gehört und als Andenken mitgenommen. Joss dachte, die Wendung ›diesbezüglich‹ verleihe dem Beruf des Ausrufers etwas Seriöses, auch wenn der Gelehrte aus dem Hotel was daran auszusetzen hatte. Ein Typ, bei dem er nicht recht wußte, was er von ihm halten sollte, dieser Hervé Decambrais. Ein Adliger, ohne jeden Zweifel, jemand, der wirklich Stil hatte, aber finanziell derartig heruntergekommen, daß er die vier Zimmer seiner ersten Etage untervermieten und seine bescheidenen Einkünfte durch den Verkauf von Häkeldeckchen und den Vertrieb von küchenpsychologischen Ratschlägen aufbessern mußte. Er selbst lebte eingegraben in zwei Zimmern im Erdgeschoß, umgeben von Bücherstapeln, die ihm immer mehr Platz wegnahmen. Und auch wenn Hervé Decambrais Tausende von Wörtern verschlungen hatte, fürchtete Joss nicht, daß er daran ersticken würde, denn der aristokratische Pinkel redete ziemlich viel. Er verschlang und spie den ganzen Tag Wörter, wie eine richtige Pumpe, mit komplizierten Wendungen, die man nicht immer verstand. Damas begriff auch nicht alles, was irgendwie beruhigend war, aber Damas war nicht gerade eine Leuchte.
    Als Joss den Inhalt seiner Urne auf den Tisch schüttete und sich anschickte, das Sagbare vom Unsagbaren zu trennen, verharrte seine Hand auf einem großen, dicken Umschlag in gebrochenem Weiß. Zum erstenmal fragte er sich, ob nicht der Gelehrte der Verfasser dieser großzügigen Botschaften war - im Umschlag steckten immer zwanzig Francs -, die er seit drei Wochen erhielt, die unangenehmsten, die er in den sieben Jahren je vorgelesen hatte. Joss riß den Umschlag auf, der Ahn blickte ihm über die Schulter. »Paß auf deinen Arsch auf, Joss, die Menschen haben nicht nur Schönes im Kopf.«
    »Schnauze«, erwiderte Joss.
    Er faltete das Blatt auseinander und las mit leiser Stimme: »Und dann, wenn Schlangen, Fledermäuse, Dachse und all die anderen Tiere, die in den Tiefen unterirdischer Gänge hausen, in Massen auf die Felder strömen und ihren angestammten Lebensraum verlassen; wenn Obst und Gemüse zu faulen beginnt und von Würmern befallen wird (...)«
    Auf der Suche nach einer Fortsetzung drehte Joss das Blatt um, aber der Text brach an der Stelle ab. Er schüttelte den Kopf. Er hatte schon viele verstörte Worte ans Tageslicht befördert, aber dieser Typ war rekordverdächtig. »Bescheuert«, brummte er. »Reich und bescheuert.« Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher