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Fleisch ist mein Gemüse

Fleisch ist mein Gemüse

Titel: Fleisch ist mein Gemüse
Autoren: Heinz Strunk
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ewig hier wohnen bleiben, Mutter unten in der Stube und ich oben im ausgebauten Speicher, wo der Regen so gemütlich aufs Dach prasselte. In meinem süßsauren Jugendzimmer bewahrte ich immer noch die schlampig zusammengekleisterten Kriegsspielzeugmodelle von Airfix auf. Ich war jahrelang ein großer Fan des Zweiten Weltkriegs gewesen, den die Deutschen meiner Meinung nach nur verloren hatten, weil sie mit der Entwicklung ihrer Geheimwaffen nicht zügig genug vorangekommen waren. Ärgerlich!
     
    Ich hatte gehofft, dass sich in den eineinhalb Jahren meiner Bundeswehrzeit irgendetwas
ergeben
würde, aber jetzt musste ich mir wohl oder übel etwas
einfallen
lassen. Eigentlich wollte ich ja schon die ganze Zeit Musiker sein, am besten mit eigenen Hits reich werden wie alle anderen auch, denn das schien damals pipieierleicht. Die Neue Deutsche Welle lag Mitte 83 zwar schon in den letzten Zügen, aber ich hatte die Zeichen derZeit noch nicht erkannt und träumte trotz Akne und anderer unübersehbarer Handikaps von einer Karriere im Pop-Business. Von Musik verstand ich schließlich was. Meine ganze Kindheit und Jugend über hatte ich unter der Ägide von Mutter, die selbst Musiklehrerin gewesen war, geübt, geübt und nochmals geübt. Jetzt galt es, endlich die Ernte einzufahren. Dass ich Popmusiker werden wollte, konnte ich Mutter natürlich nicht erzählen, denn sie hielt Popmusik für ausgesprochenen Quatsch. Trotz ihrer Erkrankung hatte Mutter immer noch große Macht über mich. Also tat ich harmlos.
    «So, Heinz, was soll denn jetzt mit dir werden?»
    «Weiß nicht. Ich dachte, Musik studieren.»
    «So, dachtest du. Aber dann musst du erst mal die Aufnahmeprüfung schaffen. Und wovon willst du bis dahin leben?»
    «Ach so.»
    «Das ist keine Antwort. Entweder du suchst dir wie alle anderen auch einen Job, oder du musst zum Sozialamt gehen. Ich verdiene nicht genug für uns beide.»
    Mein Antrag auf Sozialhilfe wurde ohne Murren bewilligt, und so stand ich die nächsten beiden Jahre unter der väterlichstrengen Obhut von Herrn Sommer, einem Mittdreißiger mit irritierend unstetem Blick.
    Mein bester Freund Niels wusste zum Glück ebenso wenig wie ich, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Ein Tagedieb alter Schule. Wir trafen uns meist bei mir, tranken Bier und saßen einfach nur so rum. Wenn das Fernsehprogramm zu Ende war – damals gab es noch Sendeschluss   –, hörten wir das Radionachtprogramm, bevorzugt das Südfunk-Tanzorchester Stuttgart unter der Leitung von Erwin Lehn, das uns mit heiteren, jedoch niemals banalen Klängen erfreute. Manchmal fingen wir aus heiterem Himmel hysterisch an zu lachen über das Schauspiel unserer traurigen Jugend, die da so sinnlos verstrich. Andere trampten nach Asien, hingen in Diskotheken rum odermachten sonst wie was aus ihrem Leben. Und wir? Wir waren eben Privatpersonen. Kontakte zum anderen Geschlecht gab es auch nicht. Die einzige Frau, die ich jemals halbwegs nackt gesehen hatte, war Mutter gewesen. So schien es auch weiterzugehen. Ich hatte mir von den
Holunder-
Ersparnissen ein winzig kleines Tonstudio angeschafft, in dem ich tage- und nächtelang Playbacks ohne klaren Verwendungszweck zusammenschraubte. Da mir lediglich eine unfassbar kompliziert zu bedienende Drum-Maschine, der analoge Synthesizer JX 3P und einer der ersten Vierspurkassettenrecorder zur Verfügung standen, klangen die Stücke alle ziemlich ähnlich. Gewisse Übereinstimmungen mit Jack Nicholson im Psychoschocker
Shining
, in dem er den immer gleichen Satz in seine Reiseschreibmaschine hämmert:
Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!,
waren unverkennbar. Playbacks schrauben, trinken, Sozialamt, Mutter, Niels, Rasen mähen. Bis vierzig soll man durchhalten? Und wie wär’s mit dreißig? Ich konnte mir nicht vorstellen, unter den gegebenen Umständen auch nur dieses Alter zu erreichen. Noch acht Jahre! Wahrscheinlich würde irgendwann einfach mein Herz stehen bleiben, weil der Körper nicht mehr mitmachte.
    Auch mit Mutter ging es rapide bergab. Sie aß und trank kaum noch etwas und glich immer mehr einem verschrumpelten Vogel, den seine Eltern aus dem Nest gepickt haben. Sie wollte sich zu Tode hungern. Auch nach der nächsten Zwangseinweisung ins Krankenhaus besserte sich ihr Zustand trotz härtester Medikation überhaupt nicht. Wenn ich sie besuchte, lag sie fast immer auf dem Bett und machte ihren Mund auf und zu wie ein Karpfen. Der Körper war irgendwie ganz verbogen,
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