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Fleisch ist mein Gemüse

Fleisch ist mein Gemüse

Titel: Fleisch ist mein Gemüse
Autoren: Heinz Strunk
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einer schweren seelischen Erkrankung herum. Bei dieser so genannten schizo-affektiven Psychose wechselten sich manische mit depressiven Phasen ab, wobei die Ausschläge im Laufe der Jahre immer heftiger wurden. Hatte die manische Phase ihren Höhepunkt erreicht, schlief Mutter oft tagelang nicht mehr, litt unter starken halluzinatorischen Wahnerlebnissen, psychomotorischen und kognitiven Störungen. In diesem sich exponenziell beschleunigenden Irrsinn brannte sie wie eine Supernova, um schließlich im unendlich verdichteten schwarzen Loch der Depression zu implodieren. Trotz kiloweise Psychopharmaka und Elektroschocks blieb sie oft monatelang im Kokon der Depression stecken. Die Psychose hatte sich im Laufe der Jahre als eigenständiges Krankheitsbild verfestigt und war inzwischen unheilbar, obwohl das natürlich niemand zugeben wollte. Erbarmungslos verrichtete sie ihr Zerstörungswerk. Achgottachgott, und jetzt ich. Alles erblich. Vom Vater die Akne und von der Mutter das Verrückte. Meiner genetischen Bestimmung würde ich nicht entrinnen können. Dabei war ich doch noch so jung. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass bis vierzig jeder durchhalten muss, dann kann er sich frei entscheiden. Aber wie sollte das gehen? Das hatte ich ja noch fast zwanzig Jahre vor mir!
    Unsere Siedlung war offenbar der Humus, in dem psychische Defekte aller Art hervorragend gediehen, denn der nächste hoffnungslose Fall wohnte gleich nebenan, im Zwergenhaus zur Rechten. Rosemarie hauste dort seit dem Tod der Eltern zusammen mit ihrem Bruder Werner. Werner war das, was man landläufig grenzdebil nennt. Er hatte meines Wissens noch nieeine Freundin gehabt und sah aus, als ob man ihm über viele Jahre hinweg mit stumpfen Gegenständen unablässig auf den Kopf gehauen und seinen Schädel zusätzlich noch für mindestens zwei Jahre in einen Schraubstock gespannt hätte. Rosemarie teilte das Schicksal meiner Mutter: Seit Jahren arbeitsunfähig, vegetierte sie in ihrem Zimmer vor sich hin, rauchte filterlose Reval und hörte deutsche Schlager, insbesondere die ihres Lieblingsinterpreten Chris Roberts.
    Ich bin verliebt in die Liebe, sie ist okay, hey, für mich, ich bin verliebt in die Liebe und vielleicht auch in dich.
    Du kannst nicht immer siebzehn sein, Liebling, das kannst du nicht, aber das Leben wird dir noch geben, was es mit siebzehn dir verspricht.
    Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir, jeden Tag und jede Nacht, was du dir wünschst, das bekommst du von mir, jeden Tag und jede Nacht. Das hättest du dir im Traum nicht gedacht, was man aus Liebe so macht, ja glaub mir, ich mach ein glückliches Mädchen aus dir, jeden Tag und jede Nacht.
    Diejenigen, die dauernd die blöde Frage stellen, wer denn um Himmels willen eigentlich deutsche Schlager hört, wissen es nun endlich: Rosemarie. Regelmäßig wurde sie in die psychiatrische Klinik Hamburg-Ochsenzoll verbracht und nach ein paar Wochen wieder ungeheilt entlassen. Mit gerade mal sechsunddreißig war sie durch Psychopharmaka und Kuchen der Saison so grotesk aufgeschwemmt, dass sie das Haus nur noch verließ, um Zigaretten zu holen. Die Augen vor panischem Entsetzen geweitet, kreiselte sie ihren unförmigen Rosemariekörper zum Zigarettenautomaten und zurück.
    Ich konnte mir keinen Menschen auf der ganzen Welt vorstellen, der mehr raucht als Rosemarie. Sie verbreitete eine Dunstglocke mit einem Radius von ungefähr fünf Metern, und ihre Haut war sattgelb. Im Sommer saß sie manchmal quarzend in der Hollywoodschaukel. Man konnte bei ihr dann obenvon unten nur noch dadurch unterscheiden, dass oben Rauch rauskam. In ihrem Zimmer hielten es selbst Ohrenkneifer oder anderes zählebige Ungeziefer nicht lange aus. Irgendwann sah sie aus wie eine Wasserleiche, die man bei niedriger Temperatur tagelang gedünstet hat. Nachts schrie sie manchmal bei geöffnetem Fenster leise vor sich hin. Der Ekel und das Entsetzen vor der Welt und sich fanden ihren Ausdruck in diesen nicht enden wollenden, leisen Schreien. Eines Nachts wurde ich von einem Chris-Roberts-Medley geweckt.
Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir, jeden Tag und jede Nacht.
Ganz entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie die Musik sehr laut aufgedreht. Ich dachte mir nichts weiter dabei, aber am nächsten Morgen war sie tot. Sie hatte Gift geschluckt und sich zusätzlich noch die Pulsadern aufgeschnitten.
    Es gab noch mindestens drei weitere Fälle schwerer psychischer Defekte in unserer Zwergensiedlung. Wahrscheinlich würde ich
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