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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein
Autoren: Bernd Ruland
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sieht jedem einmal über die Schulter, um festzustellen, wie weit er mit der Arbeit ist. Alle Achtung vor dieser Klasse!
    Hoi stelzt auf das Podium, stellt sich breitbeinig dort auf, überblickt mit Zerberusaugen den weiten Zeichensaal. Sieh einer an, die Klasse ist nicht einmal aufgeregt. Wenn man bedenkt, daß sie in dieser Woche schon drei Prüfungsarbeiten geschrieben hat... Den deutschen Aufsatz, die mathematische und die griechische Arbeit. Hois Resümee ist sehr, sehr positiv: Die Klasse hat sich tapfer gehalten.
    Da erhebt sich einer, nimmt die feierlich weißen Aktenbogen, auf denen die Arbeit niedergeschrieben ist, geht zum Podium, gibt sie Hoi.
    „Wie, Weber, schon fertig? Sie haben noch dreißig Minuten Zeit! Sehen Sie die Arbeit doch lieber noch einmal durch...“
    Nein, Weber will sie nicht mehr durchsehen. Er ist sich seiner Sache sicher...
    Die ganze Klasse ist von der Qualität ihrer Arbeit überzeugt. Respekt, Respekt... schmunzelt Hoi vor sich hin. Die Klasse hat bei mir Latein gelernt...
    Aber Krischan hat ihr mehr geholfen als die gesamten Lateinstunden des letzten Jahres zusammen.
    Das wird ihm die Oberprima nie vergessen, was er an jenem Abend gewagt und erduldet hat... Krischan ringt mit Luft. Er liegt auf dem Bauch. Er sieht nichts als Finsternis. Er regt sich nicht. Er rührt sich nicht. Qualvoll und endlos dehnen sich Minuten und Sekunden.
    Wie lange schon? Wie lange noch?
    Da hält er den Atem an unter der Chaiselongue. Was ist denn das? Hoi spricht ja... Moment mal, träumt Krischan nun oder liegt er wirklich auf dem Bauch? Er liegt wirklich da, und Hoi spricht tatsächlich über die Arbeit, die er den Oberprimanern als Prüfungsarbeit vorlegen wird und die schon von den zuständigen Stellen genehmigt ist. Krischan macht den Mund auf, spitzt die Ohren, atmet unmerklich, glaubt bald zu ersticken... Was er jetzt hört, ist unglaublich, phantastisch... Er kann es einfach nicht fassen, daß er nach fünf Minuten ganz genau weiß, aus welchem lateinischen Schriftsteller Hoi die Arbeit gewählt hat... daß er nach weiteren Minuten sogar die Stelle kennt, die für die Arbeit in Frage kommt. Krischan möchte am liebsten schreien vor Vergnügen, am liebsten die ganze Chaiselongue mit seinem Rücken hochstemmen, am liebsten... Aber er kann ja nicht. Er liegt gefangen. Er bekommt kaum Luft. Er ist schon klatschnaß geschwitzt. Er glaubt schon bald, daß es zu Ende geht mit ihm... Die Likörflasche ist immer noch nicht leer, und Hoi und Schwamm haben sich noch so viel zu erzählen...
    Krischan ist am Ende seiner Kraft. Es ist aus... Es darf aber nicht sein. Es kann nicht sein. Das ganze Abitur steht auf dem Spiel.
    Der Schweiß rinnt. Die Kleider kleben am Leibe. Die Knochen schmerzen. Der Magen rebelliert. Die Beine wollen bersten, die Arme zerspringen. Und dennoch, und dennoch — es darf nicht sein! Er muß aushalten...
    Die Likörflasche ist leer. Krischan gibt sich endgültig verloren. Da sieht Hoi auf die Uhr, und auch Schwamm stellt fest, wie spät es ist. Schon halb elf.
    Die Herren sind müde, die Sitzung ist geschlossen. Angenehme Ruhe, Herr Kollege.
    Hoi löscht das Licht. Schließt die Tür. Dreht einen Schlüssel. Ein Schloß knirscht. Krischan sitzt gefangen. Er wartet noch, bis Hoi die Treppe hinaufgeht. Krischan hört sie knarren.
    Er versucht, fortzukriechen. Er kann nicht mehr.
    Seine Glieder sind steif und schwer. Es m u ß gehen...
    Krischan steht wieder aufrecht. Durch das Fenster lugt der Mond in das Zimmer und wirft bläuliches Licht in den Raum. Krischan schleppt sich ans Fenster. Er sieht hinaus. Drei Meter hoch... Er muß es wagen.
    Am nächsten Morgen bleibt Krischans Platz in der Klasse leer.

    ☆

    Tag um Tag rinnt dahin.
    Blatt um Blatt fällt vom Kalender.
    Der „Rheinstädter Anzeiger“ schreibt, daß der Vorfrühling seinen ersten Schimmer über die Landschaft gelegt habe.
    Die Oberprimaner wissen nicht, ob sie traurig sein oder sich freuen sollen.
    Tag um Tag.
    Der „Rheinstädter Anzeiger“ weiß schon, daß in acht Tagen Frühlingsanfang ist.
    An der Rheinpromenade werden die Fahnenmasten neu gestrichen. Nun weiß es die ganze Stadt, daß der Frühling kommt.

    ☆

    „So, meine Herrschaften, bitte recht freundlich! Die Dame muß ihren Kopf noch etwas anheben. So — ja! Sehr gut, sehr gut! Der Herr, bitte, noch etwas liebenswürdiger... äh, Verzeihung, noch etwas verliebter, noch etwas... halt, ausgezeichnet, ausgezeichnet! Eine Sekunde..
    Blitzlicht.
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