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Finnisches Blut

Finnisches Blut

Titel: Finnisches Blut
Autoren: Taavi Soininvaara
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die Eltern des von ihm getöteten Mädchens empfinden mochten, und spürte eine Woge des Mitgefühls. Er hatte herausgefunden, daß die Schülerin das einzige Kind ihrer Familie war. Genau wie Siiri. Sirens Tochter war schon dreißig, aber der Vater sah in seinem Kind immer noch das Engelsgesicht im geblümten Kleid, das ihn schüchtern um ein paar Münzen bat, mit denen es sich Bonbons kaufen wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, was er bei Siiris Tod empfände. Seine Tat würde ihm nie vergeben werden.
    Er schaltete den CD-Player ein und suchte auf der CD den »Valse Triste«. Sibelius hatte in seinem Werk Phantasien geschildert, in denen sich das Gefühl der Todesangst und das der Lebensfreude abwechselten. Siren fand, daß diese Melodien gut beschrieben, wie ihm in seinem Innersten zumute war. Er fragte sich, warum nur die Musik und der Schnaps seinen Lebensschmerz linderten. Einmal mehr gelangte er zu dem Ergebnis, daß mit wissenschaftlichen Untersuchungen nichts Wesentliches herausgefunden wurde.
    Der sechzigjährige Generalmajor strich sich mit der Hand, die so groß war wie ein Brotlaib, über die kurzen blonden Haare, seufzte tief und trank noch ein Glas Kognak in einem Zug aus. Er hatte knapp vier Tage Zeit, um sich zu retten.

|22| 4
    Von Nellis fröhlichem Kreischen wurde Ratamo wach. Mit geschlossenen Augen gähnte und räkelte er sich genüßlich. Aus der Küche drangen der Kaffeeduft und vertraute Geräusche ins Schlafzimmer. Das Familienleben hatte auch seine guten Seiten, sogar in einer Ehe, die allmählich verkümmerte.
    Ratamo öffnete langsam die Augen. Ihm fiel wieder ein, was in der letzten Nacht geschehen war. Zuerst spürte er Stolz, und dann spielte ein Lächeln um seinen Mund, weil schon bald statt ungeliebtem Broterwerb ungetrübte Urlaubsfreude anstand. Der Kopf mit den blonden Zöpfen, der zur Schlafzimmertür hereinlugte, unterbrach seine Gedankengänge.
    »Na, wen haben wir denn da«, sagte Ratamo und breitete die Arme aus.
    Nelli juchzte frohgelaunt, rannte zum Bett, hüpfte auf ihren Vater und gab ihm mehrere Küsse auf die stopplige Wange.
    »Geht mein Schätzchen jetzt in den Kindergarten?«
    »Wir singen heute ›Tante Monika‹.«
    »Ihr singt also das Lied von der ›Tante Monika‹. Das ist ja prima. Kannst du denn schon den Text?« Liebevoll betrachtete Ratamo seine Tochter, die auf seinem Bauch lag. Es verblüffte ihn jeden Tag aufs neue, wie stark die Gefühle waren, die das Kind in ihm weckte.
    »Wir haben eine nette Tante, unsre Tante Monika«, sang Nelli aus tiefstem Herzen und vollem Halse.
    |23| »Arto, wenn du wach bist, kannst du dann Nelli die Kindergartensachen anziehen«, rief Kaisa aus der Küche und übertönte Nellis Gesang.
    Ratamo stand auf und ging zu dem von Kindersachen überquellenden Flurschrank. Einmal mehr verfluchte er innerlich den Innenarchitekten, einen Freund Kaisas. Die von ihm entworfene minimalistische Wohnungseinrichtung enthielt erstaunlich wenig Stauraum. Die Wohnung erschien ihnen schon lange zu eng, aber beide hatten keine Zeit, geschweige denn Lust gehabt, eine geräumigere zu suchen.
    »Warum mußt du hier drin immer splitternackt herumlaufen? Jeder kann dich durchs Fenster sehen, wenn es so hell ist«, schimpfte Kaisa. Sie hatte sich wie üblich, wenn sie zur Arbeit ging, schon bis ins kleinste Detail sorgfältig hergerichtet.
    »Erstklassige Ware darf sich jeder ruhig anschauen, wenn es ihn interessiert. Übrigens, nur zu deiner Information, seit letzte Nacht steht mein Name im Geschichtsbuch der Wissenschaft«, sagte Ratamo mit ernster Miene.
    »Ach, wieder einmal. Das ist ja wirklich toll. Was hast du denn jetzt erfunden. Eine Zeitmaschine?« spottete Kaisa, während sie ihren Sommermantel anzog.
    »In diesem Falle wärest du wieder jung und schön. Schau in den Spiegel, und du wirst enttäuscht sein«, erwiderte Ratamo ihren Spott. »Ich habe ein Gegenmittel gegen Ebola-Helsinki gefunden«, sagte er, hob seine Tochter in ihrem roten Overall hoch und stellte sie neben die Wohnungstür.
    Kaisa betrachtete ihren Mann einen Augenblick ungläubig. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich ein Gegenmittel gegen dich brauche.«
    »Hör auf. Ich meine es ernst.«
    »Genau so ernst wie am Tag der Hochzeit in der Johanneskirche, |24| oder?« sagte Kaisa und drängte sich an ihrem Mann vorbei zur Tür.
    »Küßchen, Küßchen, Vati«, rief Nelli und hielt ihrem Vater den gespitzten Mund hin.
    »Küßchen, Küßchen, mein Schatz.« Ratamo gab
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