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Finnisches Blut

Finnisches Blut

Titel: Finnisches Blut
Autoren: Taavi Soininvaara
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im August erholt. Am schwierigsten war es für sie gewesen, den Tod der Mutter zu akzeptieren. Nelli hatte so lange geweint, bis keine Tränen mehr kamen, und war dann wochenlang niedergeschlagen und bedrückt gewesen. Ratamo hoffte von ganzem Herzen, daß die schrecklichen Erfahrungen und der Tod der Mutter keine unheilbaren Wunden in ihrer Psyche hinterlassen hatten. Nach Auffassung des |360| Psychologen, den der Bereitschaftsdienst für Opfer von Verbrechen empfohlen hatte, war das Mädchen so stabil, daß sie das alles überstehen würde, wenn sie von ihrer Familie Sicherheit, Liebe und Unterstützung erhielt. Ratamo war bereit, ihr all das zu geben. Als er ein Gejagter gewesen war, hatte er sich geschworen, daß er sich nicht in seinen Panzer zurückziehen würde, sondern für Nelli sowohl Vater als auch Mutter sein wollte.
    Ratamo war auch selbst ein paarmal bei einer Therapie gewesen, ohne das Gefühl zu haben, daß es ihm half. Die Frau hatte immer nur wiederholt, daß er die Tatsachen akzeptieren und seine Trauer ausleben müsse. Das hatte er seiner Auffassung nach schon getan. Schwieriger war es, zu entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Als er damals in Todesgefahr schwebte, schien die Zukunft klar zu sein, aber die Praxis war etwas ganz anderes. Er hatte jedoch seinen Entschluß vom Sommer umgesetzt und die Arbeit aufgegeben. Offiziell war er allerdings lediglich für ein Jahr freigestellt, doch er empfand die Tatsache, daß die Stelle ihm so erhalten blieb, nur als eine Art Notbehelf.
    Die Ereignisse des Sommers hatten auch ihren Nutzen gehabt. Ratamo wurde klar, daß er sich von der Welt isoliert hatte, und beschloß deshalb, seine Freundschaften wiederzubeleben. Vor allem mit Himoaalto und Liisa hatte er viel Zeit verbracht. Und überraschenderweise auch mit Marketta, die ihm psychisch eine große Hilfe gewesen war, obwohl er doch angenommen hatte, er müßte seine Schwiegermutter trösten und unterstützen. Markettas Lebenserfahrung hatte Ratamo überrascht. Seine eigene Großmutter besuchte er jeden Sonnabend, und er hatte sogar überlegt, ob er seinen Vater anrufen sollte.
    Nelli riß sich los und rannte zu einem hellen Hund, der auf |361| dem Rasen Reviermarkierungen beschnupperte. Ratamo sah, daß es sich bei dem Tier um einen sanftmütigen Labrador handelte, und ließ Nelli den Hund streicheln, der eifrig weiter schnupperte.
    »Ein wunderschöner Hund!« rief Nelli. Sie lag ihm schon seit Wochen wegen eines Hundes in den Ohren. Ratamo hatte nicht die geringste Ahnung, wie das Kind auf diese Idee gekommen war. Er mochte Tiere auch und hätte Nellis Wunsch gern erfüllt, fürchtete aber, daß letztlich niemand Zeit hätte, sich um den armen Hund zu kümmern.
    »Sie heißt Musti!« rief jemand hinter Ratamo. Er drehte sich um und erschrak, als er Jussi Ketonen erblickte. War dieses Treffen organisiert? Sie hatten sich seit August nicht mehr gesehen. Die SUPO beobachtete ihn doch nicht etwa?
    »Tag. Ist das dein Hund?« sagte er schließlich.
    »Musti ist meine Familie«, antwortete Ketonen.
    Ketonen fragte, ob er sich ihnen anschließen dürfte. Ratamo nickte, und Ketonen rief Musti mit einem Pfiff zu sich und legte sie an die Leine. Nelli nahm ihren Vater an der Hand. Es wurde langsam Abend, und die Sonne färbte den Horizont orangerot. Von Ketonens Zigarettenrauch bekam Ratamo Appetit auf Kautabak, und er schob sich einen Etta-Priem unter die Oberlippe.
    Die beiden unterhielten sich zunächst über dies und das, aber dann lenkte Ketonen das Gespräch überraschenderweise auf ein ganz anderes Gebiet. Er redete lange über die Aufgaben bei der SUPO und sagte, er sei sehr zufrieden gewesen, daß sich Ratamo so einfallsreich und nervenstark verhalten habe.
    Sie blieben stehen, als Musti sich mitten auf den Weg setzte. Die Leine hatte sich um ein Hinterbein gewickelt, und Ketonen beugte sich vor, um ihr zu helfen. »Nach Hundejahren ist |362| Musti schon siebzig. So gesehen, ist sie noch in einem glänzenden Zustand«, sagte er stolz.
    Nelli durfte den Hund bis zum Parkplatz an der Leine führen. »So einen Hund schaffen wir uns auch an«, entschied sie.
    Ratamo wollte gerade irgend etwas Unbestimmtes versprechen, aber Ketonen kam ihm zuvor. »Du könntest ja mit Musti trainieren, wie man sich um einen Hund kümmert. Ich kann sie mal zu euch bringen, wenn ich eine Dienstreise habe«, erklärte er Nelli.
    Ihre Augen glänzten, und sie brachte kein Wort heraus. Ratamo vermutete, daß
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