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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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Haare hat und die Kinder bunte Pullover tragen, quergestreift, ist das Sexuelle so selbstverständlich wie Atmen oder Wassertrinken. Sie ist nicht schamlos, sie kann erröten, wenn er sie nackt in seinem Bad antrifft; aber wie sie niemals schlecht von anderen denkt, niemanden verflucht oder nur ein böses Wort über ihn verliert – und zwar nicht, weil das ihr Konzept wäre, sondern weil es ihr Naturell ist –, so käme sie auch kaum auf den Gedanken, sich selbst schuldig zu fühlen für den Wunsch nach einem Glück, für das der Körper nur ein schönes Mittel darstellt. – Wolfs Triebkraft dagegen kommt aus dem Tabu, was ihr zwar eine gewisse Vehemenz und Gelenkigkeit verleiht, ihm aber nur selten über die Grenzen des Körpers hinaushilft. Dank der katholischen Kirche und ihrer verlogenen Erziehung in der Schule und im Jugendheim ist er aufs herrlichste versaut und für beinahe alles bereit; aber letztlich, so degoutant er den Ausdruck auch findet, macht er nur Liebe. Alina ist Liebe.
    Das Sexuelle – eine Chronik der Verklemmungen. Es ist ihm seit je das Hauptsächliche im Leben, sein wahrer Segen, und darum misslang es wohl so oft. In den katechismusgrünen prüden, von den Talaren mahnender Priester umschatteten sechziger Jahren erwachte es in ihm fast gleichzeitig mit dem Entzücken über die Lieder der Beatles und der Rolling Stones, und als er zum ersten Mal mit einem Mädchen im Gebüsch am Kleinstadtrand verschwand, war er gerade dreizehn geworden. Über das, was jetzt folgen sollte, hatte er nur die Vorstellungen, die sich aufgrund der vagen Artikel in der »Bravo«, den Zoten seiner Schulfreunde, die es offenbar alle schon getan hatten, und ein paar Pornofotos machen ließen. Vor Angst, entdeckt zu werden, zog er sich nur das Nötigste aus, die Hose hing um die Knie, und er zitterte am ganzen Körper und fand nicht einmal die Spalte der sehr dicken Sechzehnjährigen, einer, mit der es damals viele trieben. Und als er sie atemlos anflehte, ihm um Gottes willen zu helfen, drehte sie nur den Kopf weg und sagte gelangweilt: »Nein.«
    Eine Blamage aus Gras- und Spermaflecken, das war sein erstes Mal. Und es blieb für lange der Anfang endloser Schuldgefühle, nur weil man geil war. Irgendetwas hatte die Sexualmoral jener Jahre mit Haarspray zu tun, den steifen Frisuren, mit aufgemalten Augenbrauen und Cocktailkleidern, Cocktailsesseln und Cocktailwürstchen in Haushalten, in denen es nie Cocktails gab, mit Feinripp-Unterhosen und Liebestötern aus Elastan, mit ewig unerfüllten Wünschen und ein im Dunkeln geflüstertes, dünnlippiges: »So etwas mache ich nicht!«
    In den geblümten Siebzigern war es eine Zeitlang besser, nicht nur weil er Geld verdiente und notfalls ins Bordell gehen konnte. Er probierte einiges aus in den qualmenden Lagern der Subkultur, ohne wirklich dazuzugehören; seine Freundin, die von ihren früheren Liebhabern Feuerchen genannt wurde, weil sie so sprühend kam, wollte auch von ihm Feuerchen genannt werden und trat dann bald zum Feminismus über. Und plötzlich war er wieder ein Problem, sein Schwanz, plötzlich gab es den Orgasmus nicht mehr, den er ihr so lange bereitet hatte; seine Zärtlichkeit sollte überdacht werden, und er machte den Fehler, mehr feministische Literatur zu lesen als jede Frau. Denn es half nichts. Wie einfühlsam er auch war, er blieb ein Mann und würde Frauen nie verstehen, wie sie verstanden werden wollten. Und wenn er sie doch so verstand, wollten sie eben anders verstanden werden. Sie waren ihm stets ein Lächeln voraus.
    Dann kamen die achtziger Jahre, die Umkehrung. Beschrieben Frisuren und Kleider des vorigen Jahrzehnts mithilfe von langen Haaren, Glockenärmeln und Schlaghosen die Form eines Kegels – organisch floss alles vom Scheitel hinab in die Breite –, wurde der jetzt optisch auf den Kopf gestellt: Die Schuhe waren spitz, die Hosen an den Fesseln eng und die Schultern so gewaltig ausgepolstert, dass man wie ein Keil aussah. Das Gesicht selbst stellte vom Kinn bis zu den Spitzen der strahlenartig aufragenden Haare noch einmal das Echo dieser Form dar. Man schloss sich ein im Klo des »Dschungel« oder »Slumberland«, oder wie die Wartehallen des Glücks hießen, wischte sich den Schneevon der Nase, gestrecktes Zeug, und fickte schnell und hart im Stehen. Und als er einmal die Frau dabei lecken wollte, zog sie ihn an den Ohren wieder hoch und sagte: »Nein, das nicht. Das ist zu intim.« Und am nächsten Wochenende, am selben Ort,
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