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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte
Autoren: Gaetano Cappelli
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wächst heran, gehst deinen Weg, hast fast alles vergessen, aber die Leute hören nicht auf, dich gerührt zu betrachten und lieb und nett zu dir zu sein. Vor allem die Frauen. Keine einzige, die sich nicht als deine Mutter fühlte, und das gilt sogar für die Nonnen im Kindergarten, die als ledige Frauen solche Gefühle eigentlich gar nicht haben dürften. Sie überhäufen dich mit Aufmerksamkeiten und Liebkosungen und werden zusätzlich von so manchem theologischen Zweifel gequält - ›Gelegentlich braucht es den ganzen heiligen Glauben, um die Ratschlüsse unseres Herrn
zu akzeptieren‹. Die kleinen Mädchen in ihren weißen Kittelschürzen wiederum streiten sich jeden Tag, wer sich mit dir die Brotzeit teilen darf. Aber auch bei den Männern wirkt es: Wenn ich vor den dahinschmelzenden Gläubigen als Messdiener fungiere - »Sieh ihn dir an. Sieht er nicht aus wie ein Engelchen? So ein Unglück, der Ärmste« -, gibt mir der Erzpriester immer das schönste Chorhemd, und in der Schule lässt mir der Lehrer, wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe, das durchgehen und denkt: ›Was kann man von einem armen Waisenkind schon erwarten?‹, und fragt meinen Banknachbarn ab. Was mein Banknachbar und die anderen in der Klasse denken, weiß ich nicht genau. Ich muss ihnen wie eine Art Märtyrer vorkommen, wie ein kleiner Held, der einem fürchterlichen Massaker entronnen ist und dem man jedes Privileg schuldet, das man ihm wohl nicht ohne einen gewissen Neid auch gewährt. Zu Hause schließlich behandelt man mich zuvorkommender als einen Prinzen. Ich werde gleich nach Nonnilde bedient, bekomme aber die feinsten Bissen, und am Morgen bin ich der Einzige - außer ihr, natürlich -, der das Recht auf den Zabaione mit Marsala hat. Verwöhnt, wie ich bin, taumle ich von einer Umarmung meiner Tanten und meiner unzähligen Cousinen in die nächste. Ganze Tage verbringen sie damit, Sommerhemden und Anzüge und Pullover für mich anzufertigen - und so sind es jene Jahre, in denen ich meinen Sinn für Eleganz entwickle. Sogar die Großmutter geht nachsichtig mit mir um, zumindest bis zu einer bestimmten Nacht - jener Nacht, in der ich feststelle, dass die trotz allem glückliche Zeit meiner Kindheit leider zu Ende ist.

2
    In dieser Nacht schlief ich bei Tante Ines und nicht bei Nonnilde wie sonst, seit die Mamma »fort« ist, aber das allein hätte nicht gereicht, um diese Nacht zu einer besonderen zu machen. Die Großmutter muss die Rechnungen überprüfen, die Arbeiter beim Olivenpressen überwachen, den Säuregrad des Öls, die Flaschenabfüllung und den Versand kontrollieren, oder sie muss, was belangloser ist, aufpassen, dass der Bäcker, während er das Brot backt, nicht ein paar Kilo Mehl beiseiteschafft - zu jener Zeit kaufen nur arme Leute Brot -, und hat also so viel um die Ohren, dass sie sich oft nicht einmal hinlegt. Dann muss ich mich im Bett einer meiner Tanten einrichten.
    Auch nicht die Hitze, die so außergewöhnlich ist, dass man im Dorf schon ein warnendes Vorzeichen darin sieht, die Ankündigung irgendeines Unglücks, das über uns ängstliche Terroni , uns arme, unwissende Süditaliener, hereinbrechen wird, hätte genügt, diese Nacht zu einer besonderen zu machen, und tatsächlich: Wenn ich mich hin und her wälze und nicht einschlafen kann, geschieht das weder wegen der Hitze noch wegen der Angst vor einem Unglück: Woher soll ich wissen, dass ausgerechnet ich der wahre Adressat jener himmlischen Warnung bin? Nicht einmal das Licht des Mondes, das grell durch das offene Fenster fällt, hätte mich wach gehalten, wenn es nicht ausgerechnet meine Cousine Tea beleuchtet hätte.
    Tea ist siebzehn und verlobt mit dem Austrungarico - einem kleinen Glatzkopf, der sich Wunder was einbildet wegen seiner Stellung als Präfekturbeamter in der ehemaligen k.u.k. Stadt
Triest - und schon deswegen anders als meine übrigen neunzehn Cousinen. Obwohl sie eine Erstgeborene ist, trägt sie nicht, wie alle anderen erstgeborenen Mädchen, aus Respekt vor der Großmutter den Namen Ilde. Sie hat helle Augen, strohblonde Haare und ein martialisches Wesen: Allen ist unbegreiflich, wie sie das Produkt von Tante Ines und Onkel Teodorino sein kann, die beide dunkel, phlegmatisch und zartbesaitet sind. Tea lernt wie eine Wilde, weil sie Buchhalterin werden will. Sie geht jeden Tag in der ersten Messe, der Sechs-Uhr-Messe, zur Kommunion, übt sich in einem halben Dutzend Sportarten - und das in einem Nest, das noch nicht einmal
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