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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte
Autoren: Gaetano Cappelli
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ihm davon noch bleibt - zutiefst erschüttern sollten.
    Eines Tages macht sich Großvater Ferruccio in aller Frühe auf die Reise nach Salerno. Er muss die Unterlagen für seine Pension einreichen und wird am Abend zurück sein; das sagt er zumindest Großmutter Nora, die besorgt die ganze Nacht auf ihn wartet, bis die Carabinieri an die Tür klopfen. Natürlich können sie ihr nicht mitteilen, dass ihr Ehemann am Morgen zuvor im Hotel Lux in Vico Equense aufgekreuzt war, und zwar in Begleitung von Mara Saturno, einer Nutte, und deren Tochter Olga, einer Nutte praktisch von Geburt an, und dass er dieselbe Suite mit Meeresblick verlangt hatte, in der Mussolini einst eine heiße Nacht in ungefähr derselben Gesellschaft verbracht hatte, mit Mara Saturno nämlich und deren Mutter wiederum - eine wahre Dynastie von Nutten, diese Saturno-Damen. Bei der ganzen Dringlichkeit des Falles beschränken
sich die beiden Carabinieri darauf, Großmutter Nora zu berichten, dass die Leiche ihres Gatten in einem Zimmer des besagten Château aufgefunden wurde, aber dies genügt der armen Frau, um zu begreifen: Über Jahrzehnte hat sie in den keineswegs seltenen Augenblicken der Intimität die Phantasien ihres Gemahls über jene wilde Nacht, die er in seiner Eigenschaft als treuester Anhänger des Duce selbst organisiert hatte, über sich ergehen lassen müssen. Der Schlag ist so schwer, dass die fromme Frau eine Herzattacke erleidet und innerhalb weniger Stunden ihr Leben aushaucht. Auf den Fotos von den Beerdigungen der Großeltern Doni - es war dies eine Epoche, in der man wirklich alles fotografierte -, die in einem Aufwasch zelebriert wurden, verrät der Blick meines Vaters in der allgemeinen Trauer endlich eine gewisse Heiterkeit: Unverhofft hatte er sich von der schwersten seiner Ketten befreit. Allein, das genügt nicht.
    In einem der Pakete, die im Halbjahresrhythmus aus Amerika eintreffen, befindet sich außer den üblichen Stärkungsmitteln - denen sich im Laufe der Jahre die kleinen Wunderwerke der US-amerikanischen Technik hinzugesellt haben: Küchenmixer, Staubsauger, Rasierapparate, Transistorradios, elektrische Dosenöffner - und dem üblichen liebevollen Brief von Onkel Richard an Nonnilde ein weiterer Brief von Onkel Richard, der für Enrico, meinen Vater, bestimmt ist. Der Onkel aus Amerika bietet ihm einen auf sechs Monate befristeten Arbeitsvertrag an, falls er in Kalifornien am Aufbau einer Artischockenplantage mitwirken wolle. Und hier liegt der Grund für Nonnildes Hass auf den Schwager; das ist es, was sie ihm nie verzeihen wird. Enrico bereitet es nach dem Hinscheiden seines reizbaren Schwiegervaters nicht die geringste Mühe, wortwörtlich über dessen Leiche zu gehen. Zu der Großmutter - seiner Mutter - und zu seiner Frau, die im Begriff ist, meine Mutter zu werden - sie ist im zweiten Monat schwanger -, sagt er: »Das ist eine Erfahrung, die ich einfach machen muss: Bis jetzt ist niemand imstande gewesen, in Amerika so etwas anzubauen, Artischocken, und außerdem komme ich gleich
wieder zurück.« So aufgeregt ist er, dass er Probleme mit der Syntax bekommt.
    Aber es vergingen die sechs vertraglich vereinbarten Monate, ich, sein Sohn Carlo, kam zur Welt, und mein Vater kehrte nicht einmal wegen dieses freudigen Ereignisses nach Hause zurück - danach übrigens auch nicht. An seiner statt trafen immer größere Pakete ein, mit immer kürzeren Briefen darin. Die Mamma las sie mir abends am Bett vor, das mir so riesig vorkam wie der Ozean, der uns vom Babbo trennte, und die Decke hatte ein Muster wie ein wogendes Meer und fühlte sich kalt an. »Dein Vater schreibt, dass er dich liebhat, Carlino«, sagte sie. »Und ich hab dich lieb, und Nonnilde, Tante Ines, Onkel Teodorino, Tante Emma …«, antwortete ich zerstreut, weil ich völlig gefesselt war von dem Spielzeug, das Papà nie für mich dazuzupacken vergaß. Ich war dermaßen glücklich, dass ich überhaupt nicht begriff, warum die Mamma jedes Mal weinend davonlief und mich wie einen Schiffbrüchigen in diesem Riesenbett zurückließ, während draußen vor den Fenstern der Wind über das Tal pfiff.
    So geht das vier Jahre lang, bis die Großmutter Besuch von einem ehemaligen Pächter bekommt, der ebenfalls nach Amerika ausgewandert ist. Er ist einer von den vielen, die kommen, um ihr mit gesenktem Haupt und Taschen voller Geschenke ihre Huldigung darzubringen - man weiß nicht recht, warum, da diese Leute in der Zwischenzeit ihr Glück gemacht haben und
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